Berthold Jacob

Nach meinem Aufenthalt in den Zellen der Gestapo wurde ich in das Konzentrationslager im Columbia-Haus verschickt. Dort erhielt ich den stärksten Eindruck von der barbarischen Grausamkeit des Naziregimes. Dies war am 29. März [1935], an einem Freitag im Columbiahaus. An diesem Tage war ich Zeuge einer schrecklichen Szene. Man muss übrigens beachten, dass die Nazis in ihrem Rachedurst den schweren Fehler begingen, einem Journalisten wie ich es bin, die Gelegenheit zur Beobachtung dessen zu geben, was sich in Berlin an dieser Stelle abspielt, die eine so traurige Berühmtheit erlangt hat, und wo viele Menschen gefoltert werden.

Was ich an diesem Tage erlebt habe, werde ich niemals vergessen. Es spielte sich Früh-Nachmittags ab. Zunächst rückte eine Truppe der SS.-Formationen in ihren schwarzen Uniformen im Marschschritt an und stellt sich im Hofe auf. Von meiner Zelle aus konnte ich die Rufe der Führer und ihre Kommandos hören. Gleich darauf wurde ein langer Zug von Gefangenen in den Hof geführt. Als alles fertig war, erschien der Kommandeur. In Gegenwart der Truppe und der Gefangenen hielt er eine kurze Ansprache, die ich nicht verstehen konnte. Ich hörte nur, dass er die Gefangenen bedrohte, er würde sie in Zukunft noch viel härter bestrafen.

Dann las der Adjutant, ein Württemberger, in seinen heimatlichen Dialekt einige Urteile vor. Ich verstand genau, dass einer der Gefangenen verurteilt worden war und hörte den Befehl: "An die Mauer" Im selben Augenblick zerriss ein Schrei die Luft: "Mama! Mama! Gnade! Gnade! Ich bin ja noch so jung!..." Die Stimme war durch die Angst so verändert, dass es die eines jungen Mädchens zu sein schien.

In diesem Augenblick erwartete ich nichts anderes zu hören, als die Salve des Exekutions-Kommandos. Ich war mit meinen Nerven zu Ende... Dann hörte ich das Sausen einer Peitsche und das schreckliche Geräusch, das die Schläge auf dem Rücken des Verurteilten verursachten. Eine Stimme zählte 1... 2... 3... 4... und so fort bis 15. Dann las man ein zweites Urteil vor. Ein Mann, dessen Namen ich nicht verstand, wurde zu 15 Peitschenhieben verurteilt, "weil er seine Erinnerungen aufgeschrieben hatte". Dieses Urteil trug die Unterschrift des Kommandanten des Konzentrationslagers, eines gewissen Moder, und die des Inspektors aller Konzentrationslager, des Obergruppenführers Eicke.

Ein drittes Urteil wurde verkündet. In diesem Falle war der Delinquent beschuldigt, seinen Zellenkameraden nicht daran gehindert zu haben, Selbstmord zu begehen.

Drei andere Urteile gleicher Art wurden vorgelesen und vollzogen, ohne dass ich jedoch den Namen des Verurteilten und das Verbrechen, für das er bestraft wurde, verstehen konnte.

Das sechste und letzte Urteil traf einen gewissen Joseph Schenk, geboren 1894 in Breslau. Der Delinquent war beschuldigt6, den Führer und Reichskanzler beleidigt zu haben. Das kostete ihn 15 Peitschenhiebe: Er ertrug sie, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. So schloss die Sitzung dieses seltsamen Gerichtshofes. Man kann mir glauben, dass dies der fürchterlichste Eindruck meines Lebens war.

Blöde Sentimentalität ist wirklich nicht meine Sache, aber niemals werde ich diese halbe Stunde vergessen. Und sich vorzustellen, dass Menschen von großem Format, wie meine Freunde Ossietzky, der grosse und bekannte Schriftsteller, dass Küster und Thälmann der gleichen Behandlung unterworfen sind, das gleiche Martyrium erdulden müssen... Die deutsche Regierung muss, im Gegensatz zu anderen, - Rechenschaft ablegen über das was sie tut. Wird sie eingestehen, dass in den von ihr eingerichteten Konzentrationslagern nach einem tatsächlich bestehenden Gesetz Menschen misshandelt werden und dass für die Ausführung dieses Gesetzes hohe Funktionäre und Führer der Hitler-Truppen verantwortlich sind.

Müsste nicht das Weltgewissen darauf dringen, auf die Frage, die ich hier stelle, Antwort zu erhalten.

Warum schweigt die Welt?!

Berthold Jacob: Warum schweigt die Welt?!, Paris 1936, S. 8 - 10.

 

 

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