Wilhelm Harnisch

Es erscheint Herr Pastor Dr. Harnisch und gibt folgendes zu Protokoll:

Ich wurde am Donnerstag, 25.4.1935, auf Veranlassung der Gestapo von der Staatspolizei Alexanderplatz verhaftet. Die Behandlung bei meiner Verhaftung und während meines Aufenthaltes im Polizeipräsidium war durchaus korrekt. Sie gab zu keinerlei Klage Veranlassung. Anders wurde es, als ich am Freitag in die Gestapa eingeliefert war. Die Anschuldigungen, ich stünde mit der Auslandspresse in Verbindung, waren grundlos. Der mich verhörende Assessor Dr. Hartmann erklärte, meine Behauptungen ständen in striktem Gegensatz zu den Aussagen eines Herrn Dr. Wegner, der behauptete, von mir Nachrichten bekommen zu haben. Ich erklärte dies für unwahr, verlangte, dem Dr. Wegner gegenüber gestellt zu werden. Herr Ass. Hartmann versprach mir dies und sagte, das ich bis dahin in Haft behalten werden müsse. Er versprach mir, die Untersuchungen zu beschleunigen und dass ich nicht länger als 7 mal 24 Stunden in Schutzhaft gehalten werden könne. Die erste Nacht im Zellengefängnis des Gestapa war erträglich, wenn ich auch wie ein Verbrecher behandelt wurde, indem man mir Hosenträger, Kragen, Schlips und alles abnahm. Ich erkenne aber an, dass man mir mein neues Testament und meinen Bleistift beließ, desgleichen mein Kopfkissen und meine Steppdecke, da ich schwer hüftleidend bin.

Ungefähr um 12 Uhr wurde ich am Tage darauf, also am Sonnabend, 27.4.1935 mit der "Grünen Minna" ins Konzentrationslager Columbia-Haus abtransportiert. Nach meiner Einlieferung hörte ich auf, Mensch zu sein. Es wurde mir diesmal nichts belassen. Auch die Kragenknöpfe und mein Testament wurden mir weggenommen. Ich wurde zunächst mit einem 15-jährigen 175er in eine Zelle gesperrt und die jungen SS-Leute brachten mir unter wüsten Beschimpfungen bei, wie ich mich zu benehmen hatte. Sowie die Tür aufging, musste ich melden: "Gang III b, Zelle 154, belegt mit den Schutzhäftlingen Freitag und Harnisch."

Ich muss anerkennen, dass der Kompanieführer, der nach einigen Stunden kam, mich aus dieser Zelle herausnahm und zu einem Rechtsanwalt Kaltenbach brachte. Ich erhielt auch in Anbetracht meines Hüftleidens mein Kopfkissen und meine Decke. Das hinderte nicht einige Posten, mich aus dem Bette aufstehen und strammstehen zu lassen. Besondere Freude schien es den Wachleuten zu bereiten, einen Pfarrer zu haben. Ungefähr 1/2 Dutzend mal wiederholte es sich, dass einer mich dem anderen zeigte, der sich dann zunächst scheinbar freundlich nach meinem Beruf erkundigte, um dann in ein höhnisches Gelächter auszubrechen. "Du Saupfaff," sagte einer, "hast wohl am Karfreitag wieder von der Kanzel gewettert"?

Es schien überhaupt den Posten Spass zu machen, auch beim Antreten, mich und besonders die katholischen Pfarrer lächerlich zu machen. Ich selbst bin nicht angerührt worden, habe aber gesehen, wie mein Nachbar im Glied, als wir auf das Rasieren warteten, sich etwas an die Wand lehnte und dafür vom Posten bei der Gurgel gepackt und mit dem Hinterkopf 3 mal an die Wand gestossen wurde. Derselbe Posten nahm dann dem Barbier die Haarschneidemaschine fort und fuhr ihm damit durch die Haare, indem er höhnisch fragte: "Na, ziept es auch ordentlich"?

Mir wurde von meinem Mitgefangenen einmal einwandfrei berichtet, dass kurz vor Ostern die SS. in einer Reihe antrat, gegenüber die Gefangenen und dass der Lagerkommandant eine grosse Strafpredigt hielt, er liesse sich die Ungehorsamsfälle nicht länger gefallen. Es wurden dann 15 Gefangene über den Tisch gezogen und mit Klopfpeitschen bearbeitet. Ein kleiner Jude soll in seiner Zelle geschlagen worden sein und, als er sich beschwerte und den Posten nicht angeben konnte, der es getan, mit Schlägen bestraft wegen falscher Denunziation. Eine Situation, die sehr peinlich war, erlebte ich am letzten Tage meines dortigen Aufenthaltes. Meine Frau hatte zum zweiten Mal Besuchserlaubnis bekommen zum Ärger des Überwachungspersonals.

Als ich vormittags um 11 Uhr (um 5 Uhr wurden wir geweckt) bat, austreten zu dürfen, sagte der Wachmann, "Sie sind überhaupt sehr anspruchsvoll" und warf die Tür zu. Als ich den Schieber wieder raussteckte und sagte, ich muss austreten, brüllte er mich an, "Sie müssen gar nicht, halten Sie den Rand". Bei der Essenausgabe beschwerte ich mich beim Kompanieführer und fragte, ob ich ein Recht hätte, austreten zu dürfen, worauf mir dieser antwortete: "Ich trete auch nur einmal am Tage aus." Als ich nach dem Essen wie üblich mein Essgeschirr abwaschen wollte, wurde mir dies untersagt, weil ich ja dann zum Austreten Gelegenheit gehabt hätte. Ich durfte meine Notdurft erst verrichten, als ich nachmittags um 2 Uhr aus dem Konzentrationslager entlassen wurde. Das Furchtbarste war, dass ich die 8 Tage meiner Haft nicht ins Freie kam, dass ich nicht lesen durfte, mit Ausnahme zweier Tage, an denen man meinem Zimmergefährten gestattet hatte, den Angriff zu kaufen. Das war die einzige geistige Nahrung dieser 8 Tage. Den Tag von Früh bis Abend ohne Beschäftigung in der Zelle sitzen zu müssen, ohne zu wissen, wann diese Zeit zu Ende, war einfach grauenhaft.

Mein Zellengenosse, ein Rechtsanwalt Kaltenbach, hatte dieses grausame Erlebnis nun bereits 15 Wochen hinter sich. Der Tatbestand (Devisenschiebung) war noch nicht erwiesen, und er erwartete förmlich die Stunde, wo das Material belastend genug wäre, dass er in das Untersuchungsgefängnis käme. Dieser Umstand, dass ein blosser Verdacht die Veranlassung zu einer weit schlimmeren Behandlung war, als eine bewiesene Schuld, liess bei allen Insassen die Achtung vor dem Recht schwinden. Es waren unter den Insassen des Konzentrationslagers ungefähr die Hälfte 175er. Die anderen waren politische Verdächtige jeder Art.

Leider kann ich nur wenige Namen nennen, da mein Namensgedächtnis sehr schlecht ist. Ich erinnere mich auf einen Herrn Stölzle, Hausmeister von Röhm, der meines Wissens nur ein einziges Mal verhört worden ist. Ein Freikorpsführer, Hauptmann Römer ist meines Wissens auch schon über ein Jahr dort, nachdem er vom Reichsgericht freigesprochen sein soll. Ich entsinne mich, dass noch ein anderer Regierungsrat dort war, ein Arzt, ein Zahnarzt (soviel ich weiss wegen ihrer Zugehörigkeit zur Loge). Ausserdem 3 Hilfsarbeiter des Oberpräsidenten Brückner. Zweien davon gelang es, mit einem Posten zusammen zu fliehen und, wie mir gesagt wurde, über die polnische Grenze zu entkommen. Zweifellos kann man von polnischer Seite bald wieder Nachrichten über deutsche Konzentrationslager hören. Der Dritte, der nicht mitfloh, wurde deshalb besonders schikaniert in strengster Einzelhaft. Desgleichen ein Hitlerjugend-Führer Hammer, der mit dem Entflohenen befreundet sein sollte.

Nachdem ich 3 Tage dort war, wurde es den Gefangenen wieder gestattet. Zusatzkost zu kaufen, die wegen der Flucht der beiden Gefangenen längere Zeit allen gesperrt war. Unverständlich ist es mir, dass diese Zusatzkost an die Gefangenen mit einem Preisaufschlag von 100 verkauft wurde, was ich besonders wegen der vielen armen Gefangenen als ungerechtfertigt empfand. (Ein Ei = 20 Pf., 1/4 Pfund Butter 55 Pf., ein(e) Tafel billiger Schokolade, Handelspreis = 20 bis 25 Pf. für 45 Pf., ein Brötchen = 5 Pf., 1 Scheibe Brot = 5 Pf. usw.). Es wurde auch erzählt, dass in einer Zelle jemand erschossen sein solle. Ich habe Herrn Regierungsrat Dr. Gisevius die Adresse desselben angegeben. Die allerschlimmsten Misshandlungen scheinen mit der Abberufung des damaligen Lagerkommandanten und Lagerführers abgestellt worden zu sein.

Ich habe von dem augenblicklichen Lagerführer den Eindruck, dass er ein persönlich anständiger Mensch mit den besten Absichten ist, dass er sich aber den Unterführern gegenüber nicht durchsetzen konnte. Dafür folgendes Beispiel: Als die 7 Tage meiner Verhaftung um waren und ich trotz des mir gegebenen Versprechens auch nicht verhört war, verlangte ich nach einem Bleistift, um an die Gestapo zu schreiben. Der Bleistift wurde mir trotz 6maligen Bittens am Kompanieführer abgelehnt, da ich bereits an meine Frau geschrieben und man nicht öfter als alle 14 Tage schreiben darf. Als ich mich beim Lagerführer deswegen beschwerte, sagte er, er wolle dem Kompanieführer Anweisung geben, mir einen Bleistift zu geben. Der Kompanieführer bestätigte mir, dass der Lagerführer ihm den Auftrag gegeben, stellte mir aber trotzdem keinen zur Verfügung.

Man hatte das Gefühl, dort lebendig begraben zu sein. In furchbarster Erinnerung ist mir der Abtransport von 60 175ern nach Lichtenburg. Der Abtransport fand am Freitag, den 3.5., ungefähr 1/2 5 Uhr morgens statt, zu dem Zwecke wurden die jungen Leute auf dem Flur ungefähr um 12 Uhr mit furchtbarem Gebrüll geweckt und bis zu ihrem Abtransport mit Marsch, marsch, auf und nieder in dem Korridor geschliffen, wobei ich auch einen Aufschrei hörte, der zweifellos auf eine Misshandlung zurückzuführen war. An Schlaf war für uns Gefangene natürlich nicht zu denken. Ich selber konnte, da ich krankgeschrieben war, ja am Vormittag ausschlafen, wehe aber, wenn ein anderer armer Gefangener ertappt wurde, dass er sich mal auf sein Bett legte.

Bei der Verwendung dieses Materials bitte ich zu bedenken, dass es mir für die wenigsten Fälle möglich sein wird, einen Beweis zu erbringen. Da ein Wachmann den anderen deckte und ich bei den vielen Gefangenen, ich glaube es waren 200, nicht immer werde die richtigen Zeugen werde herausfinden können. Wenn ich mich trotzdem der Gefahr des Verdachts der Verbreitung von Greuelnachrichten aussetze, dann tue ich dies, weil die Not meiner Mitgefangenen mir solange auf dem Gewissen liegen wird, als solche Konzentrationslager noch in Deutschland bestehen.

Man wird auch kaum den einzelnen Wachmann verantwortlich machen können. Es sind junge SS-Leute, zum Teil unter 20 Jahren, die dort z. T. noch ausgebildet werden und es ist psychologisch verständlich, dass sie den Ärger, den sie bei ihrer Ausbildung in sich hineingefressen haben, nun an den Gefangenen wieder auslassen. Ausserdem scheinen die Kompanieführer Wert darauf zu legen, dass die Wachleute uns in barschem Ton anbrüllten. Es kam mir so vor, als ob sie gerade in Gegenwart ihrer Vorgesetzten zu uns besonders scharf waren, um ihre Tüchtigkeit im Dienst zu beweisen.

Es drängte sich mir immer der Vergleich auf, dass wir die jungen Füchse waren, an denen die Teckel scharfgemacht werden sollten. Ein Zustand, der sich für die erstrebte Volksgemeinschaft doch verheerend auswirken muss. Nicht nur für die Einstellung der jungen SS-Leute, sondern auch für die Gefangenen, die dieser Zustand mit einem Rechtsstand für unvereinbar empfanden und daher seelisch für das dritte Reich verloren sind. Ich unterlasse nicht zu erwähnen, dass auch einige Wachleute sich eines objektiven Benehmens befleissigten. Sie bildeten aber die Ausnahme. Durchaus war auch der Lagerarzt. Wenn man aber, ehe man zum Arzt kommt, lange Zeit auf dem kalten Flur unter Aufsicht eines rohen Wachmannes in Reihe und Glied stehen muss, verzichtet man gern darauf, dem Arzt vorgeführt zu werden. Als ich ihm allerdings einmal vorgeführt wurde, bekam ich sofort für meine Hüftschmerzen einen Lichtbogen und die Erlaubnis der Bettruhe am Tage.

Nach meiner Rückkehr werde ich in der Gemeinde dauernd gefragt, ob ich nicht misshandelt worden bin und ich bekommen, wenn ich dies verneine, häufig zur Antwort: "Wie wissen ja, Sie dürfen ja nichts sagen." So sehr ist in der allgemeinen Volksmeinung der Begriff Konzentrationslager mit dem der körperlichen Misshandlung identisch. Selbstverständlich trete ich der Behauptung, dass ich körperlich misshandelt sei, überall entgegen und werde dies auch heute Abend in der Bibelstunde tun. Ich bin auch mit meinen Mitteilungen über meinen Aufenthalt sehr zurückhaltend, denn ich glaube, dies im Interesse des Ansehens der Regierung schuldig zu sein. Wenn ich an dieser Stelle auf ausdrückliche Aufforderung hin offen sage, was ich erlebt habe, dann tue ich dies, weil ich glaube, den Staatsstellen damit am besten dienen zu können.

Bericht von Pfarrer Dr. Wilhelm Harnisch vom 10. Mai 1935. Das Dokument trägt auf der ersten Seite einen handschriftlichen Vermerk von Hans von Dohnanyi, damals persönlicher Referent des Reichsjustizministers Franz Gürtner. Es ist zu vermuten, daß dieser Bericht zu denen gehörte, die von Dohnanyi als Beweismaterial über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sammelte und dem "Diensttagebuch des Reichsjustizministers" als Anlage beifügte. Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Beweisdokument des Internationalen Militärtribunals, PS-780.

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