Kurt Hiller
17.8.1885 (Berlin) - 1.10.1972 (Hamburg)Der promovierte Jurist Kurt Hiller lebt seit 1908 als Schriftsteller in Berlin. Nach dem Ersten Weltkrieg gehört er zu den Gründern der Gruppe Revolutionärer Pazifisten. Seit den 1920er Jahren setzt er sich für die Abschaffung des § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs ein, der männliche Homosexualität unter Strafe stellt.
Kurt Hiller ist im Juli 1933 einer der ersten Häftlinge im Columbia-Haus. Der nach seiner Freilassung 1934/35 in der Wochenzeitschrift „Die neue Weltbühne“ veröffentlichte ausführliche Bericht „Schutzhäftling 231“ ist eine der eindrücklichsten Schilderungen der Haftbedingungen im Columbia-Haus. Kurt Hiller emigriert 1934 nach Prag und anschließend nach Großbritannien.
Häftlingsbericht
Kurt Hiller
Kurt Hiller: Schutzhäftling 231
Mit drei oder vier andern werde ich auf einem Flitzer verladen; wir müssen uns getrennt setzen und alle rückwärts, offenbar um nicht zu sehen, wohin die Reise geht. Nach einer kleinen Viertelstunde, etwa um acht Uhr abends, halten wir auf dem Hof eines jener halb kasernen- halb zuchthaushaften Backsteingebäude, die der Gegend am Rande des Tempelhofer Feldes ihr unerfreuliches Gepräge geben. Sollte das die berüchtigte SA-Höhle in der General-Papestrasse sein? Der Fahrt nach kaum; auch herrscht hier die SS. Also ein Haus, das ich nicht kenne. (Bald sollte sich herausstellen, dass die Öffentlichkeit es gleichfalls nicht kennt und dass man seine Existenz aufs strengste geheim hält.)
Wir müssen uns in einem engen halbdunklen Gang nebeneinander aufstellen, alles, was wir bei uns haben, vor uns niederlegen, in den Hut oder die Mütze: Brieftasche, Uhr, Messer, Bleistifte, Portemonnaie, sogar den Ring vom Finger, Krawatte und Kragen, das Taschentuch, den Hosengurt, die Schnürsenkel. Vor jeden von uns tritt ein SS-Kerl, dicht, fast Nase an Nase. Ich schaue mir meinen an, leicht analysierend; er brüllt, ich Schwein solle zu Boden sehn. Sein Nachbar, grinsend, wünscht mit ihm zu tauschen. Vor mich tritt ein riesiger Sportskerl, Promenadenmischung, höhnischer Blick, spitze, etwas zu kleine Nase, unten rötlich. Er lacht mich an: "Solche weeche Neese, die lieb ich besonders" - und schon habe ich vier, fünf Fausthiebe im Gesicht, mit voller Boxkraft aus nächster Nähe, dass mir schummrig wird und das Blut in vollem Strome aus der Nase schiesst. Man stösst mich in die Schreibstube, ich gebe die Sachen ab, die Personalien werden notiert. Dann jagt man mich mit Tritten in eine Zelle. Ich falle blutbesudelt auf den Strohsack. Die Tür knallt zu.
Noch ehe ich recht zur Besinnung komme, holt man mich wieder heraus, hetzt mich in ein geräumiges Zimmer. Seine Wände sind mit Peitschen und Geisseln drapiert; die Mitte nimmt ein grosser viereckiger blankgescheuerter Tisch ein; rings um ihn, teils sitzend teils stehend, etwa zwanzig SS-Leute, einer mit nacktem Oberkörper, muskelbepackt, wie der Henker auf Schundbildern. Die Gesichter der Männer: nicht höhnisch, meist ruhig-gespannt, in Erwartung von Wesentlichem. Das Kommando führt ein dicklicher bierblonder Patron. Mitte dreissig, über den ich später erfahre, dass er Lipke (Lübke?) heisst. Ich muss mich über den Tisch legen; vier Kerle pressen mir die Hände an die Kanten und halten meine Füsse fest. Hinter mich tritt der Entblösste mit riesiger Peitsche; (ich sehe sie nicht, aber ein paar Tage später zeigt sie mir in meiner Zelle grinsend der Boxer; sie ist zwei bis drei Meter lang und aus weich-breitem Leder). Fünfundzwanzig Hiebe. Nach dem fünften, sechsten glaube ich, das ist nicht überlebbar, und beginne zu schreien. Das stachelt sie; höhnische Zurufe. Nach dem vielleicht zwanzigsten brülle ich, ich würde ohnmächtig. Nach dem fünfundzwanzigsten tritt eine Pause ein. Ich falle hin; man reisst mich auf. Man befiehlt mir, Hose und Unterhose herunterzulassen, und ich muss mit dem Bauch abermals über den Tisch. Man umklammert mir die Gelenke, drückt meinen Kopf mit einer Wucht auf die gescheuterte Platte, als wäre er vorn selber platt, hebt mir das Hemd hoch, und nun folgen neue fünfundzwanzig. Durch die Gewohnheit und bei sich verminderndem Bewusstsein werden sie um den Schatten einer Spur weniger unerträglich als die ersten.
Nach der Exekution bin ich nicht viel lebendiger als eine Leiche. Auf der Tischplatte, wo mein Kopf lag, liegt eine grosse Lache Blut. "Blutverlust: gering:" spottet Lipke. Dann fragt er mich: "Na, ist dir einer abgegangen?" Die Frage verrät den Kerl; und die ganze Bande. Ich wanke zum Waschraum, vielmehr werde gewankt. Man steckt mir den Kopf unter einen dicken Strahl kalten Wassers: als Peinigung gedacht, als Wohltat empfunden. Von Abtrocknen keine Rede. Man treibt mich im Laufschritt zur Zelle; ein ungeheurer Fusstritt befördert mich hinein. Ich fliege an die der Tür gegenüberliegende Steinwand; auf der Stirn klafft eine Wunde; ich versinke in Schlaf.
So sieht der Anfang, so der Empfang aus; nicht nur bei mir. Alle Intellektuellen werden so empfangen, alle Juden, die meisten Kommunisten und ein Teil der Sozialdemokraten. Ein Kamerad erzählte mir später, er habe nicht fünfzig, sondern hundertzehn Peitschenhiebe bekommen. Der Fall, dass Gesässbacken fortoperiert werden mussten, weil das zerwalkte Fleisch faulte, war nicht selten.
Ich bin, zum Glück, nicht "windelweich" sondern steinhart geschlagen; das spannt und brennt. Ich kann kaum liegen, geschweige sitzen, am wenigsten auf jenem fünf Zentimeter schmalen Eisenträger, der, eine Hand lang, aus der Wand ragt und hier Stuhl oder Schemel ersetzt. Liegen tagsüber ist zudem verboten. So bleibt mir nur übrig, in dieser halbdunklen Zelle, zu ebner Erde, stunden- und stundenlang wie ein gefangenes Tier dahinzurotten; a l s ein gefangenes Tier; Lektüre gibt es natürlich nicht. Genau das, wovor mir so lange unsäglich gegraut hat: erzwungenes Nichtstun, ist nun eingetreten. Aber, merkwürdig, dieser Zustand wird liebenswert - gemessen an seinen Unterbrechungen. Sooft sich die Zellentür öffnet, erwartet mich eine neue Peinigung oder Erniedrigung, Schläge, Drohungen, Schmähungen; und man hat den einzigen Wunsch: allein zu bleiben, ungestört, die schwarze Kanaille nicht zu sehen. Für die Wohltat dieses Negativums nimmt man das positive Grauen der Untätigkeit gern in Kauf.
Nach drei Tagen komme ich in eine etwas bessere Zelle; sie liegt im ersten Stock, bieten einen Ausblick ins Grüne (schöne windbewegte Pappel am Westzipfel des Neuköllner Volksparks!) und hat einen Schemel. Ausguss, Klosett oder wenigstens einen Kübel enthält sie auch nicht. Jedes Bedürfnis muss man anmelden, durch Hinausstecken der "Fahne", strammstehend und differenzierend: "Zelle 78 Nummer 231 bittet klein austreten zu dürfen" ("... bittet gross austreten zu dürfen"); meist erregt man Anstoss mit diesem Wunsch: die Kerle sind faul; oft muss man warten, manchmal eine halbe Stunde und länger, abends vor dem Schlafengehn, erklärte mir ein Posten: "Das hat bis morgen früh Zeit". Auf meine Antwort: "Ich fürchte, dann den Nachtposten stören zu müssen" erwiderte er: "Na, denn fürchte man!" und schlug die Tür zu. Ein Zuchthäusler, bekanntlich, ist vor dieser Gattung Quälerei geschützt. Seine Zelle enthält das Erforderliche. Er ist nicht genötigt, wozu wir bisweilen genötigt waren: die Waschschüssel oder sogar den Essnapf zum Nachtgeschirr zu machen. Was übrigens verboten war! Nicht verboten war, Reste des Kaffees auszuschütten. Also gossen wir morgens, bevor wir die Waschschüssel hinaustrugen, tarnend Lorke in den Urin und hoben zu diesem Zweck vom Abendtrank ständig ein wenig auf.
Hilfs-Techniken dieserart entwickeln sich nur in Gemeinschaft, einstweilen bin ich in Einzelhaft.
Am vierten Tage beginnt das Exerzieren. Täglich etwa eine Stunde im Hof. Die Alten, Kranken und Lahmen trotten, die Hände auf dem Rücken, im "kleinen Kreis" ihren Gänsemarsch. Wir andern müssen ran. Meist nur zu stumpfsinnigem Marschieren mit "Das Wandern ist des Müllers Lust", "Ich hatt einen Kameraden", "Lore, Lore, Lore" und zu ermüdenden Dauerläufen mit Springen über ein Stöckchen, das Lipke hinhält; oft aber gibt es auch halbtiefe Kniebeugen bis zum Umfallen, Liegestütz auf der kiesigen Erde bis zur Bewusstlosigkeit, "Hinlegen! Auf! Marsch, Marsch! Hinlegen!" im Dreck wieder und wieder. Am schärfsten geschliffen werden Intellektuelle und Juden. Laufschritt und Sprung in alten schlappenden Stiefeln ohne Schnürsenkel ist eine Strapaze, zumindest für die Nerven, da einen die Angst vor dem Auslatschen nicht verlässt.
Truppführer Rautenberg, Mitte zwanzig, blond, schmächtig, ziemlich krumm, Brille, Typ des gescheiterten Theologiestudenten, muss in meinen Akten ein beschlagnahmtes Flugblatt der Gruppe Revolutionärer Pazifisten entdeckt haben, worin neben andern Massnahmen Kriegsdienstverweigerung empfohlen wird. Auf dem Hofe steht, vom Gewitter der letzten Nacht, eine riesige Pfütze; vielleicht drei Meter lang, einen breit. Rautenberg lässt alle gerade verfügbaren Gefangenen längs der Pfütze antreten, und ich muss im Parademarsch immer an ihnen vorüber, dreimal, viermal, immer durch die Pfütze (mit offenen Stiefeln). Er backpfeift mich vor der Front der Kameraden und kreischt: "Seht euch diesen Lumpen an! Seht ihn euch genau an! Wisst ihr, was der ist? Kriegsdienstverweigerer ist der! Kriegs-dienst-ver-wei-ge-rer!!! Merkt euch dieses Gesicht für ewige Zeiten! Der Schuft ist ein noch grösseres Schwein als ihr, der ist von euch allen der gemeinste Verbrecher!"
Wieder in der Zelle, bedreckt, schweisstriefend, mit angebrochenem Nasenbein, zerschlagenem Gesäss, zerschundenen Handgelenken, der Stirnwunde und nun dieser neuen Demütigung (auch hatte der "Kommissar" des Hauses, ein salopper Herr von Angern, mir versichert, ich könne mit vier bis fünf Jahren Konzentrationslager rechnen), werde ich von einem unzähmbaren Verlangen gepackt, auszuprobieren, ob mit den Ärmeln meines Lüsterjäckchens Selbst-Erdrosselung möglich sei. Kein Spiel, kein Ernst, ein verzweifeltes Experiment. In der Sekunde, da ich es anstelle, äugt ein Pfosten durch den Spion. Er öffnet, fragt, ich stammle und er meldet. Um neun Uhr abends lässt Rautenberg mir Handschellen anlegen. Bis sechs Uhr morgens. Das presst die Gelenke, schneidet in die Haut und drückt beide Hände enger zusammen, als Fesseln mit Ketten es täten. Die Stahlringe um jedes Handgelenk verbindet ein Scharnier. Neun Nachtstunden so zu liegen - ich wünsche es höchstens dreien von meinen siebzig Feinden. Man ändert ständig, im Rahmen des Möglichen, die Lage der an den Wurzeln zusammengezwungenen Hände zueinander und hält das gekoppelte Armpaar abwechselnd über dem Leib und über dem Kopf. Todmüde sein, infolge der Schellen nicht zum Schlaf kommen, dabei momentweis hundertmal eindrusseln, durch den Handzwang immer wieder wach werden, Erleichterung probieren, vergeblich, vergeblich, ein wüstes Halbtraumdämmern, schmerzdurchädert und durchspukt von Gespenstern, zum Beispiel meiner runden Klavierlehrerin aus früher Kindheit, der toten Tante Hilde, mit giftgrünem Gesicht ... dies ist wirklich die Hölle.
In der übernächsten Nacht muss ich sie wieder betreten. Abermals auf Rautenbergs Geheiss neune Stunden Handschellen; die Schergen, die sie mir anlegen, benehmen sich unroh, offenkundig bedauernd, aber Befehl ist Befehl.
Ich steige am Morgen vom Strohsack wie auseinandergenommen und falsch wiederzusammengesetzt, ohnmachtsnah, mit Herzstichen. Vor der dritten Nacht in Schellen bewahrt mich der Arzt; (ein seltsames Exemplar).
Ich habe später von zuverlässigen Kameraden gehört, dass gewisse Gefangene (solche, die im Verdacht standen, sich einstmals an Nationalsozialisten vergriffen zu haben) viele Wochen hindurch in Handschellen gehalten wurden, Tag und Nacht; nur zum Waschen, zum Essen, zur Erledigung der Bedürfnisse sollen sie ihnen jeweils für einige Minuten abgenommen worden sein. Das bedeutet langsamen Mord. Die Ketten der sibirischen Kettensträflinge klingen pathetischer, aber sie liessen ihren Trägern ungleich mehr Bewegungsfreiheit.
Das Exerzieren ist in diesen Tagen besonders scharf; jeder Weg im Hause - zum Antreten, zum Austreten, zum Waschen, zum Essenempfang, zum Geschirrsäubern - muss überdies im Laufschritt zurückgelegt werden (die Vorschrift gilt für Alt wie Jung; wer "geht", kriegt Maulschellen, Boxhiebe, Fusstritte); und die Ernährung ist ganz unzureichend. Meine Beine schwellen an; ich beachte es erst nicht; nach ein paar Tagen ist das rechte so elefantisch aufgedickt, dass ich den Fuss kaum in den schnürsenkellosen Stiefel zu zwängen vermag. Ich melde das dem "Sanitäter" und bitte um Dispens vom Exerzieren. Nun gerade nicht. Im Gegenteil, mein Hintermann auf dem Hof erhält den Auftrag, mich feste zu treten. Um Schlägen zu entgehen, folgt er. Soll ich dem stirnlosen Lulatsch Levy zürnen, weil er auf Befehl (Jude gegen Jude) mich mit seiner kolossalen Flosse markig ohrfeigt? Erst einen halben Monat später, als er mit plumper Vertraulichkeit auf börsen-jiddisch mich anquatscht, stösst der Bursche mich ab.
Der Arzt ist ein Unikum, Doktor Strauss, an die dreissig, klein, breit, frisch, blaue Raub-Augen, überstramm, den werdenden Bauch unter dem SS-Koppel tarnend, fast nie mit dem Gefangenen über dessen Gesundheit im Gespräch, über seine Klagen und Wünsche, dafür dauernd mit ihm in politischer Polemik, auf dem Niveau des Alten Herrn einer nätionalen Couleur. Als ich ihm informationshalber mein gepeitschtes Gesäss zeige, stellt er zwar zunächst die geistvolle Frage, ob es schmerze, lässt ihr aber sogleich die tieferschürfende folgen: ob ich als intelligenter Mensch denn nicht ehrlicherweise, Hand aufs Herz, zugeben müsse, dass solche disziplinarischen Massregeln notwendig seien. Er startet eine Entrüstungsrede gegen Linksblätter, mit Argumenten, die nur teilweise die Blätter und gar nicht mich treffen. Vorwürfe einzustecken, wegen gewisser Haltungen, die man als Aussenseiter jahrelang heftig bekämpft hat, ist spassvoll – ausser in diesem Hause. Als ich erwähne, dass seit der Exekution mein Urin schwärzlich-braunrot ist, schnarrt er: "Ja, wundert Sie das? Im Hintern gibts Blut." Das dicke Bein, jetzt, stimmt ihn aber ernst. Er verordnet für zwei Tage "absolute Bettruhe", salzlose Kost, entwässernde Pillen. Bis auf weiteres Befreiung vom Exerzieren und vom Laufschritt auf den Korridoren. Ich habe Wasser in den Beinen, die Nieren funktionieren nicht. (Eine Anzahl weniger widerstandsfähiger Kameraden sind an Nierenzerreissung, infolge der Peitschenhiebe, zugrunde gegangen.)
Ich erhalte keine salzlose Kost. Ich habe die Wahl zwischen Fasten und salziger. Die "Bettruhe" bringt mir mehrfachen Besuch von SS-Knechten, die mich anhöhnen, mich Haufen Unglück auf dem Strohsack: "Du Aas, verrecke da nur in deiner Ecke!" "Glaubst du vielleicht, dass du jemals lebendig aus diesem Hause kommst?" "Wir schmeissen dich in eine Grube auf dem Hof, Scheisse drauf und zuschütten - da findet dich keiner von deinen Freunden!" Nachts, infolge der Pillen, muss ich den Posten bemühen. Ich wanke zurück. Er: "Du jehst ja, als wennste sterbst; na, denn sterb man, du Sau." Es ist Fitzner, ein riesiger verlebter Amateurringer. Später kocht er und gibt an den Zellentüren das Essen aus. Nie ohne Beschimpfungen. Einmal zu mir: "Du stinkiges Judenaas müsstest überhaupt nichts zu fressen kriegen!" An den Ton gewöhnt man sich rasch. Im Sommer drauf ist Fitzner zweifelhafte Attraktion des Schöneberger Rummelplatzes.
Ruhe, Pillen und meine gute Natur helfen. Das Wasser weicht aus den Beinen; aus dem rechten nur allmählich; noch etwa vier Wochen lang ist es am Abend stets neuangeschwollen. Die ärztliche Befreiung vom Exerzieren hat zur Folge, dass einzelne Schwarze mich besonders scharf hernehmen. Was oben in der Zelle gelten mag, gilt nicht auf dem Hof. "Hier hat der Arzt einen Dreck zu sagen; hier kommandiere ich!" brüllt mich ein Scharführer an, den ich, für mich und später für die Kameraden, "das Warzenschwein" nenne und der nicht bloss un-arisch sondern durchdringend hunnisch-kalmückisch aussieht. Truppführer Moser (Mädchengesicht mit Gorillafresse) lässt mich - trotz, nein, wegen der Meldung: "Auf Anordnung des Arztes befreit vom Dauerlauf" - im Laufschritt solo siebenmal hintereinander den weiten Gefängnishof umkreisen.
Doch die Mehrzahl der Hof-Herren respektiert, was der Arzt verfügt hat. Doktor Strauss, sehr befriedigt über seinen Heilerfolg, redet mich an: "Wenn ihr gesiegt hättet, würdet ihr mich an die Wand gestellt haben. Etwa nicht? Aber ich, ich kuriere Sie. Ist das nicht unterhört anständig von mir?" - '"Sie geben damit ein Beispiel äusserster Sachlichkeit." Diese Antwort bewirkt etwas: Strauss setzt bei Rautenberg durch, dass ich, nach siebzehn Tagen, endlich nach Hause schreiben darf. Einen Zettel zwar nur, mit der Bitte um Seife, Zahn- und Nagelbürste, ein Hemd, eine paar Taschentücher. Aufs strengste verboten wird mir, über mein Befinden ein Wort zu schreiben und über die Stätte meines Aufenthalts. Dabei weiss ich selber nicht, wo ich bin; nach Wochen kombiniere ich aus Gerüchtfetzen, die in den spärlichen Minuten des Zusammenseins mit Kameraden mir zufliegen, dass dieses Haus eine ehemalige Militärarrestanstalt ist, nahe der Friesen-, in der Columbia-Strasse, am Nordrand des Feldes, gegenüber von Tempelhof. Erst am zweiten Oktober erfahre ich durch einen freundlichen Kommissar, der mich in fremder Sache vernimmt, den amtlichen Namen des Instituts: "Columbia-Haus".
Kaum ein Tag vergeht ohne schmutzige Beschimpfungen und wüste Bezichtigungen. Grossaufgemachte "Verhöre", Inspektionsbesuche schwarzer Prominenzen, Stippvisiten untergeordneter Gewaltkerle in meiner Zelle und der "Bärentanz" auf dem Hofe geben die Gelegenheit. Man dichtet mir, in Bouillonkeller-Ausdrücken, Sexualhandlungen an, vor denen mir ekelt, über deren Vorkommen mich als Jurist zu entrüsten ich freilich einen wissenschaftlichen Grund nie sah und deren Liebhaber verächtlich zu machen Nationalsozialisten zuallerletzt befugt sind. Mehrmals begeht man diese Niedrigkeit vor allen Kameraden. Nachdem die Platte abgespielt ist, vergnügt man sich damit, mir Schändung dreizehnjähriger, dann dreijähriger Mädchen vorzuwerfen; auch soll ich eine Anzahl Morde auf dem Gewissen haben. Fast noch bizarrer, aus etlichen Gründen, wirkt auf mich die Anschuldigung, ich hätte jenen jungen Mann, dem das Reisegeld nach Paris zu beschaffen mir misslungen war, "an die französische Liga für Menschenrechte verschieben wollen". Selbstverständlich nehme ich keine dieser Bezichtigungen schweigend hin. Und ich muss sagen, meine Proteste haben eine Misshandlung nie zur Folge gehabt. (Trotzdem träfe ein Aphorismus: "Je würdeloser in der Schutzhaft sich einer benimmt, desto tiefer wird er erniedrigt" in dieser bequemen Pointierung kaum zu.)
Die Schmähungen und Bezichtigungen, ausgestossen meist in Gegenwart von SS-Neulingen, Kerkerlehrlingen, Rekruten der Grausamkeit, haben den Zweck, diese oft ursprünglich menschlichen Bauern-, Kleinbürger-, Arbeiterjungs gegen den Gefangenen scharf zu machen; natürlich bezwecken sie auch Einschüchterung. Der Schutzhäftling, ohne Ahnung von der Dauer seiner Haft, soll obendrein durch die Angst vor einem Verfahren und langfristiger Zuchthausstrafe zermürbt werden. Mir wird, ich weiss nicht wie, als Herr Rautenberg mich in der Zelle plötzlich über meine Beziehungen zu André Gide befragt. Er spricht den Namen wie ein Quartaner aus und hält diesen ur-romanischen Protestanten, vermutlich aus akustischen Gründen, für einen Juden. Ich beruhige ihn und vergesse auch keineswegs, die Goethe-Medaille zu erwähnen, die Hindenburg Gide im Jahre 1932 verliehen hat; (einer der besseren Witze der Weltgeschichte). Das hindert Herrn Rautenberg nicht, zu behaupten, ich hätte Gide Artikel gegen Deutschland übersandt, die dieser dann in der französischen Presse veröffentlich habe. Kein wahres Wort; aber in Korrespondenz mit dem verehrten Manne stand ich, und im vorletzten Brief hatte ich ihm allerdings den Einbruch der SS-Banditen in meine Wohnung kurz beschrieben. Ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Columbia-Bande ist wahrscheinlich. Ich zittre zuinnerst; doch mich beseelt das grosse Vertrauen zu einem grossen Menschen: ich weiss, weiss mit astronomischer Sicherheit, das Gide meinen Brief oder Teile seines Inhalts, da meine Zustimmung fehlt, nicht veröffentlicht haben k a n n. Darauf bauend, verschweige ich eisern den Tatbestand, der mich möglicherweise nicht vor Gericht, aber bestimmt in dieser Räuberhöhle aufs schwerste belastet hätte. "Wir haben Ihren Brief!" lügt Herr Rautenberg, nachdem ich den Brief aufs Tapet gebracht. Wenn er ihn hat, frage ich mich, warum will er dann von mir wissen, was drinsteht? Ich reproduziere den Inhalt, aber ohne die Stelle über den Einbruch. "Und was steht noch drin?" Ich laviere: "Über das Missgeschick, das mich betroffen hat." Er fragt nicht weiter; droht nur mit neuem Verhör. Das bleibt aus. Erst viele Monate später, nach meiner Entlassung, enthüllt sich mir der Zusammenhang; Es lag keine (nur durch komplizierte Hypothesen allenfalls begreifbare) Denunziation über meine Pariser Korrespondenz vor, auch kein Akt politischer Postzensur, auch nicht die Beschlagnahme der versehentlich nicht vernichteten Kopie (sie fand sich!); sondern meine im Gestapa kontrollierte Brieftasche hatte den Postabschnitt über einen Geldbetrag enthalten, den André Gide mir nach der Entlassung aus Spandau, in den Monaten meiner Erwerbslosigkeit, grossherzig hatte zukommen lassen; ich hatte mich wegen des Namenszugs von dem Streifchen Papier nicht trennen mögen - statt etwaige Folgen zu bedenken. Das Inquisitorenpack wollte sich den Fund natürlich nicht anders erklären als so: Ein Franzose überweist einem Berliner Linksschriftsteller Geld, das kann nur der Sündenlohn für einen landesverräterischen Zeitungsartikel sein.
Sechsundreissig Tage Einzelhaft ohne Arbeit, ohne einen Buchstaben Lektüre – im Rechtsstaat wird dem zu lebenslangem Zuchthaus begnadigten Raubmörder nicht der sechsundreissigste Teil dieser Qual zugemutet. Hier nicht irrsinnig zu werden, ist das grosse Wunder. Erstaunlich, erstaunlich, was der Körper eines "dekadenten Asphaltliteraten" und das Nervensystem eines "Neurotikers" aushält! Ich probiere alle möglichen Beschäftigungen; ich berechne im Kopf die Primzahlen bis tausend; suche mittels einer in den Kalk gekratzten Figur (die Wand hat Nägel) den Pythagoras zu beweisen; strenge mich an, die Formeln für Umfang und Inhalt von Kreis und Kugel abzuleiten; überdenke, welche europäischen Staatsoberhäupter Zeitgenossen der Queen Victoria gewesen sind (wie man weiss, hat sie vierundsechzig Jahre regiert); stelle eine Anciennitätsliste [Reihenfolge nach dem Lebensalter, d. V.] meiner Freunde zusammen; mit Spitznamen, die ich erfinde, eine nach Typen geordnete Liste aller mir begegnenden SS-Männer; ritze in ein senkrechtes dünnes Heizungsrohr, Buchstabe unter Buchstabe, unverwüstlich das Wort "Nationalsadisten"; und in das harte Holz der Zellentür den Satz: "Liebet eure Feinde! Segnet, die euch fluchen! Tut wohl denen, die euch hassen!" Ich will diese Rowdies an das Christentum erinnern, das ihre Häuptlinge im Munde führen; und es gelingt mir. Einer der Kerkerknechte entdeckt eines Morgens die Inschrift, als die Sonne sie bescheint, und ist sehr betroffen. Er fragt mich, ob ich den Spruch eingekratzt habe; ich leugne; ich hätte das so vorgefunden. "Na ja," versetzt er, "du Jude kannst das sowieso nicht schreiben." Hinterher kommt mir der Gedanke: meine Nachfolger in der Zelle fühlen sich durch das Wort am Ende angeredet; als lüde ein Zusammengebrochner ihren echten und gerechten Rache-Instinkt demuts-süsslich zur Selbstzerstörung ein. Und wenn! Es kann keinem Revolutionär schaden, die Bergpredigt zu hören; ich will in der Tat nicht, dass wir dereinst, nach dem Siege, an Unschuldigen Vergeltung üben, dem Beispiel folgend, das die Kanaille uns heute gibt; und wir werden unserer Sache nur nutzen, wenn wir Halbschuldigen vergeben und selbst die Schuldigen ohne jene Grausamkeit unschädlich machen werden, die sie im Übermass verdient haben.
Am Vorabend meines Geburtstags, mehr als einen Monat nach der Verhaftung, erhalte ich das erste Esspaket. Es hat, von Berlin nach Berlin, sechs Tage gebraucht. Die Gestapo hatte zuerst die Annahme verweigert, weil fünfzehn Pfennig Zustellgebühr nicht mitfrankiert waren; dabei hab' ich in der Schreibstube des Columbia-Hauses mehrere Mark liegen! Hochsommer: das Weissbrot ist ausgetrocknet, die Pfirsiche sind zur Hälfte verfault, der Weichkäse schimmelt von Maden. Nach umständlicher Tötung dieser Daseinsgenossenen (ich habe ja Zeit) verzehre ich ihn dennoch mit Wonne.
Am neunzehnten August bekomme ich endlich Kameraden in die Zelle; zwei gleich; Sozialdemokraten. So widerwärtig der eine, so anständig der andre. Ich habe mit Kommunisten, ich habe mit Parteilosen, ich habe mit Ariern, Halbjuden und Juden, mit Jungen und Alten, mit Primitiven und Zerebralen, sogar mit Nationalsozialisten immer die gleiche Erfahrung gemacht; es gibt "sone und solche", man muss nicht verallgemeinern. So wenig diese Erkenntnis zu einem programmatischen Relativismus, zu einer Allerwelts-Toleranz führen darf, die Systeme nicht mehr verwirft, weil sie falsch, sondern sie gelten lässt, weil ein Teil ihrer Anhänger feine Kerle sind, so sehr muss sie uns doch davor bewahren, von vornherein Qualität dort anzunehmen, wo wir uns verwandt, und menschliche Minderwertigkeit dort, wo wir uns abweichend wissen. Natürlich ist erst recht die Perversion des Üblichen vom Übel; und Leute, die Abweichenden reizhungrig mit dem Vorurteil der Qualität begegnen, Verwandten gelangweilt mit dem Vorurteil der Minderwertigkeit, sind besonders ekelhaft. (Zum Beispiel der Selbsthasser am Schreibtisch, der den "Mann am Schraubstock" zur Lichtgestalt erhebt und "den" Intellektuellen als Steissgeburt anschwärzt).
Auch Genossen von der kleinen feinen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) begegne ich. In der gegenüberliegenden Zelle, die bis Anfang August, aufreizend privilegiert vor uns andern Gefangenen, Hauptmann Stennes bewohnt hat (ein Hitler-Apostat, aber nur ein taktischer), wohnt Doktor Klaus Zweiling. Wir kannten uns, aber nicht von Angesicht. Bevor ich erfahre, wer's ist, fällt mir diese hohe hagre Gestalt eines gütigen Fanatikers auf, mit Augen, die zu sehr glühen, um einem Evolutionär zu gehören, und aus denen zugleich eine geistige Unhärte spricht, die nicht bolschewistisch sein kann. Als wir einander entdecken: Freude. Also auch Freude gibts in diesem Haus. Meine Freude wird beschattet durch den furchtbaren Anblick, den Zweiling nach ein paar Tagen bietet; er kehrt von der Vernehmung im Gestapa mit den überdeutlichen Spuren gröbster Misshandlung zurück: dunkle, blutunterlaufne Stellen im Gesicht, ein Auge verquollen. Diese "Vernehmungen" wiederholen sich.
Mir, ohne Vernehmung, gehts kaum besser. Der Nasenboxer vom Einlieferungsabend, SS-Mann Kramer, sucht mich in der Zelle auf, und ohne Anlass, selbst ohne den Vorwand eines Anlasses, tritt er mir grinsend auf die Zehen, schmettert mich mit einem Hieb vor die Brust an die Wand und stösst mir mit der Faust ins Gesicht. Er will grinsend die Titel meiner Bücher wissen, erklärt meine Doktorarbeit für abgeschmiert, gibt mir zum Briefschreiben einen stumpfen Bleistiftstummel und spottet über meine "Klaue", stellt sich dicht neben mich, während ich meiner Mutter schreibe, und nennt sie "mein Lottchen". Das Warzenschwein, der Tigerhai oder Laller, der Wolfshecht benehmen sich anders, nicht besser. Sie grinsen nicht; ihr Blick bleckt, fletscht. Ich muss den Korridor scheuern, man tritt mich ins Schmutzwasser; ich muss ihn mittels eines defekten Besens fegen und, dreissig oder vierzig Meter lang, jedes Strohpartikelchen, noch das mikroskopisch kleinste, mit den Fingern aus den Fliesenrillen lesen – die Frühstückslorke wird unterdes kalt. Ich muss diesen Korridor gelegentlich auch auf allen Vieren entlangkriechen; und nachts werde ich aus dem Schlaf gerissen, um die unterschiedlichen Becken eines Klosettraums zu reinigen. Zwischendurch in der Zelle Freiübungen bis zum Umfallen, weil ich mich weigre, auf Befehl die Internationale zu singen (wie würde man mich erst gemartert haben, wenn ich sie gesungen hätte!), und weil ich sämtliche Strophen von "Deutschland, Deutschland, über alles" keineswegs wörtlich auswendig kann. Das will ein gebildeter Mensch sein! Magenkrämpfe, unter denen ich mich krümme, werden nicht zur Kenntnis genommen.
Wer, wie mein Zellengenosse N. [es handelte sich um den Tempelhofer Sozialdemokraten Fritz Neubecker] an Magensenkung leidet oder, wie ich, an Übersäuerung des Magens, für den bedeutet der Frass hier Gift. Besonders das "Brot" – ein Gemengsel, das nur nass-frisch zur Not geniessbar ist und schon nach einem halben Tage stinkt. Wir bekommens mit scharfem Schmalz gestrichen, auch abends ohne Zubrot, selbst das Schmalz bleibt oft aus. Zu trinken gibts "Kaffee", eine schaurige Lorke aus Korn. Als Mittagessen tagaus tagein dies fettig-wässrige Etwas, das eigentlich immer gleichschmeckt, einerlei ob Kohlrüben, Graupen, Linsen, harte Erbsen, mehlige Bohnen drin herumschwimmen oder "Fusslappen" (Weisskohl): Die Gleichschaltung dieser Gerichte erfolgt durch ständig untermischte ungare Klötze einer Sorte Kartoffel für Schweinekofen. Nur ganz selten finden sich ein paar Fasern oder zaddrige Würfelchen ausgekochten Fleisches in dem Gesüpp. Ein einziges Mal während dreier Monate gabs Milchreis: die Körner waren spröde wie Glas. Wohin damit? Wohin mit sämtlichen Ungeniessbarkeiten? Der Sträfling hat sein Klosett oder seinen Kübel; wir beneiden ihn. Uns quält, zu allem was uns ohnehin quält, der unversteckbare Frass-Überfluss. Später, als man dazu überging, uns planvoll auszuhungern, schlug Quantität, weil sie in teuflischem Masse fehlte, in Qualität, weil die uns egal wurde, um; doch in den ersten Wochen bleibt das Wohin mit dem Frass ein peinigendes Problem. Stehnlassen, zurückgeben, im Spülraum fortschütten, ist verboten; wer nicht aufisst, muss - je nach Laune des gerade kommandierenden Schuftes – die doppelte Portion in sich hineinwürgen oder tagelang fasten. Ich helfe mir, indem ich jedesmal das Eisentürchen heimlich vom Lüftungsschacht schraube, die zu beseitigenden Frassreste in die Öffnung löffle, sofort wiederzuschraube –; das alles muss mit affenartiger Geschwindigkeit geschehn, eine fürchterliche Nervenprobe, denn jeden Augenblick kann ein schwarzer Knote durch Guckloch äugen, und dann ist‘s aus!
Löffel darf niemand in der Zelle haben. Sie werden mittags verteilt, bald nach dem Essen wieder eingesammelt. Bei meiner Ankunft, vierzehnten Juli, sind im Hause vielleicht achtzig Gefangene; die Zahl wächst geschwind - bis zu dreihundert, vierhundert im September. Eines Tages, siehe da, gibt‘s keine Löffel mehr; der Mob, der hier verwaltet, ist offenbar zu träge gewesen, die erforderliche Menge rechtzeitig zu besorgen. Wir müssen also die Suppe wie Hunde aus dem Napf schlürfen, die festen Bestandteile mit den Fingern in den Mund baggern! (Gelegenheit, sich die Hände zu waschen – ohne Seife, versteht sich –, hat man meist erst Stunden nachher). Wir verfertigen uns aus alten Kekspackungen Papplöffel; damit schmeckt der Frass noch widerlicher, auch weichen sie bald auf; wir verzichten. Das geht ein paar Wochen so. Schliesslich kommt in Zellen mit drei Mann ein Löffel. Die ersten Esser eilen sich; dann, wenn der dritte ihn erhält, ist das spärliche aber scheussliche Fett erkaltet. Gottvoll für Magenkranke!
Genosse N. [d.i. Fritz Neubecker, d.V.] windet sich vor Schmerzen; er geht Herrn Doktor Strauss mit der Bitte an, ihm Weissbrot zu verordnen. Der fragt ihn, ob und bei wem er früher in Behandlung war. N. [Neubecker, d.V.] nennt seinen Kassenarzt, einen angesehenen Spezialisten. Da springt ein Wut-Geysir auf. "Haben Sie's nötig als Deutscher, sich von einem Juden behandeln zu lassen?" brüllt Strauss; "und dazu noch von so einem? Ich kenne den Lumpen; wenn der Kerl mir begegnet, den schiess ich glatt über den Haufen!" Für diesen völkischen Mediziner existieren keine innern Leiden, nur sichtbare; N. [Neubecker, d.V.] erhält nichts. Ein zweiter, mit Strauss abwechselnder Arzt (anständiger, aber einflussarmer Mann, die Rotte missachtet seine Verordnungen), und ein herb menschlicher, sich von dem Schandbetrieb offensichtlich abgrenzender, bei uns allen äusserst beliebter Sanitäter, Tempelherrentyp, der übrigens am 1. Oktober (freiwillig?) verschwand - ich kenne beider Namen nicht -, verschaffen dem Genossen und auch mir für einige Zeit Weissbrot.
An manchen Tagen unterlässt das verordnete Gebäck es, bis zu uns vorzudringen; Kameraden, die in der Küche arbeiten, brauchen uns nicht erst zu verraten, dass die Bande es selber gefressen hat. Sie unterschlägt zuletzt sogar den Inhalt der Lebensmittelpakete, die, wöchentlich bis zu drei Pfund, uns via Gestapa von Hause zugehn; also für dies Gesindel haben unsere Mütter, Frauen, Freunde sich das vom Munde abgespart! Mit einem Schlage raubt man aus Hunderten von Paketen den Schinken, die Würste, die Eier, Käse und Butter, das Obst, den Kuchen, die Schokolade, scheinlegal auf raffinierte Art: Erst lügt Herr Harfenstein (Havenstein?), ein verlebter tischtuchweisser Bursche mit bösem Blick, uns beim Appell vor, Esspakete für Schutzhäftlinge seien in Preussen fortan verboten; was noch ankomme, erhalte die Winterhilfe; dann werden unsre Briefe, in denen wir diese Neuigkeit befehlsgemäss den Angehörigen melden, so lange zurückgehalten, dass sie sie erst erreichen, als das fällige, an einem vorgeschriebenen Wochentag abzusendende Paket schon unterwegs ist.
Selbst aus unseren Taschen die Briefmarken zu requirieren, die uns die Unsern zur Freimachung unserer Schreiben geschickt haben, schämt das Pack sich nicht. Briefe werden unterschlagen, eingelaufene, abgegebene – unter politischem Vorwand oder ohne den, sadisto-schlampig. Alle acht Tage sollen wir einmal schreiben dürfen, aber man gibt uns kein Papier; melden wir, werden wir angebrüllt; Pausen von zwei, selbst drei Wochen sind nichts Seltnes. Die Briefe, die wir empfangen, müssen wir nach flüchtiger Lektüre, meist im Stehen und unter Aufsicht, sofort wieder abliefern, sie mithin (tage- ja wochenlang später) aus dem Kopf beantworten. Sie gehn "zu den Akten", man sieht sie nie wieder. Die Frage: Mit welchem Recht stiehlt mir der Staat Briefe, die meine Mutter an mich gerichtet hat, noch dazu von ihm selbst zensurierte, also politische einwandfreie – ist absurd gegenüber dem Unrechtsstaat.
Sind die physischen Misshandlungen die schlimmern oder die moralischen? Eine Doktorfrage. Gar nichts macht mir aus, zehnmal rufen zu müssen: "Ich bin ein ägyptischer Wüstensohn"; als ob es, wenns wahr, eine Schande wäre! Hat denn die Sonne Ägyptens jemals im Lauf von Jahrtausenden ein Geschmeiss ausgebrütet vom Range dieser SS-Brüder? Übrigens, als der Kerl mich unterbricht: "Was? Ein ägyptischer Wüstensohn bis du? Du bist eine ägyptische Wüstensau! Was bist du?", schreie ich: "Ägyptische Wüstensau! Ägyptische Wüstensau!! Ägyptische Wüstensau!!!" und er merkt gar nicht, dass ich ihn meine.
Goethes hundertvierundachtzigster Geburtstag wird mir unvergesslich bleiben. Die Augustsonne wuchtet hernieder; wir müssen auf dem Hof einen Kastanienstubben ausroden. Wir – nämlich das "Prominentenkommando", das hämisch zusammengestellt wird. Ein ehemaliger Polizeipräsident, ein Stadtrat, ein Reichsgraf, ich und ein sensibler Zwanzigjähriger, der oft weint. Kintopp für zwei Dutzend Schwarze in der Runde. Die lockere Erde ist längst fort; ich muss die harte zwischen den Wurzeln des etwa sechzig Zentimeter dicken Stumpfs in Hochstellung mit den blossen Händen ausscharren und hinter mich werfen, "wie wenn ein Hund etwas gemacht hat", erläutert Lipke. Die Glut lastet. Der Schweiss strömt. Das Gelächter der Schwarzen dröhnt. Nach einer Weile drückt man mir eine schwere Spitzhacke in die Faust; ich muss sie schwingen und schwingen, Müdigkeit gilt nicht. man freut sich krähend und krachend, als ich, von der Bezeichnung verführt, mit der Spitz- statt mit der Breitseite auf die Baumwurzeln einhaue. Zuletzt bekomme ich eine Schaufel mit zu kurzem, zackig abgebrochenem Stiel. Natürlich pack ich sie falsch an. Man wiehert. Ich reisse mir einen gewaltigen Splitter in den Handteller. Als mir das Wasser in Bächen von Kopf und Körper rinnt und das letzte Mark aus den Knochen gepumpt ist, werde ich abgelöst; an meine Stelle tritt der Genosse Klühs vom "Vorwärts". Dieser ältere Feuilletonist soll mit der Sklavenarbeit am Stubben viele Stunden lang gequält worden sein.
Ein andermal müssen, beim "Bärentanz", vier Juden dicht zusammentreten und sich eine Viertelstunde in mittlerer Kniebeuge halten; kurz vor dem Umfallen wird ihnen ein Riesenkarton über die vier Köpfe gestülpt; sie dürfen sich aufrichten und müssen nun, bis unter die Nase im Finstern, ein heiliges hebräisches Gebet sprechen. Ich soll es vorsprechen. Ich weigre mich; mangels Kenntnis. Einer (ein Komponist aus Polen, sagt man) stimmt inbrünstig das Schemah Jisroel an; die beiden Andern brummeln es mit; ich, der Sprache unkundig, rufe nur unausgesetzt: "Adonai, Adonai." Von den Veranstaltern äussert einer: "Jetzt sollte man knipsen!" Die vier Köpfe unter dem Karton dürfen raten, ob mit dem Revolver oder mit der Kamera gemeint ist. Der Karton wird entfernt, schirmlose grünblaue Mützen werden uns schief aufgesetzt; dann wieder Kniebeuge.
Von nun an müssen alle Gefangenen jene Krätzchen tragen und grünblaue Hemden mit blanken Knöpfen dazu. Dies Uniformen sind Beutestücke; den "Bollejungs", der aufgelösten Jugendorganisation des Deutschnationalen Kampfringes, abgenommen. Unsereinen will man damit zum Affen, zum Pojaz machen. Selbst der würdige Demokrat Falk, einst Oberpräsident der Provinz Sachsen, muss in dieser Maskerade Kartoffeln schälen. Befreit von ihr sind die Geschlechtskranken und der Gefangene Herbert Blank. Blank, vormals metaphysischer Stabschef Otto Strassers, hat sich für die Privilegien, die man im in der Hölle einräumt, mit dem Schlüsselroman "SS" bedankt, worin er sie zu einer Art Himmel umfärbte – dieser erzverlogene Beulenschädel; nach seiner Entlassung, unter dem Pseudonym "A. Tiefenbach". (Wollte man den Schwindelschmarren, von seiner schmierigen Tendenz absehend, unter rein künstlerischem Gesichtswinkel mit Bockmist vergleichen, so schmähte man zu Unrecht ein Naturprodukt.)
Auch mit den jüngern Sohn des Präsidenten Ebert [Karl Ebert, d.V.] traf ich im Columbia-Haus zusammen. Er musste die hohle Bronzebüste seines Vaters, die am Rande des Exerzierhofs auf einem Zaunpfahl steckt, erklettern und sie küssen.
Eine der schlimmsten Peinigungen für jeden von uns sind die Marterungen der Andern. Abends gegen acht, wenn das Grammophon zu quaken und kreischen beginnt, wissen wir, dass wieder einer dran ist. Die Schreie der Gepeitschten sollen übertönt werden; sie sollen nicht nach aussen dringen. Ich hörte aber nicht nur, ich sah auch. Eines Morgens, auf dem Weg über den Hof zum Waschen an der Plumpe (man läuft mit nacktem Oberkörper), erblicke ich vor mir den verkrüppelsten Menschen, der mir im Leben begegnet ist, einen Zwerg mit ungeheurem Buckel; diesen Buckel streifen dunkelrote Striemen. Man hat es gewagt…
Auch einen siebenachtel Blinden, der, schwarze Gläser vor den Augen, zurückkehrend von der Latrine sich am Müllhaufen langsam entlangtastet, faucht man an, das Dreckschwein solle sich beeilen und geradegehn.
Entsetzlicher als die Demütigungen, als der Frass, selbst als die Folterungen ist der uns zudiktierte Verzicht auf Befriedigung der einfachsten hygienisch-zivilisatorischen Bedürfnisse.
Wer gewohnt ist, sich täglich zu rasieren, für den bedeutet der Zwang, die Stoppeln acht, ja zwölf Tage stehn zu lassen, eine Marter. Ungeschabt, ungeschoren, ohne Kragen, mit je magrer man wird, desto rutscherenderen Hosen, mit nie geputzten riemenlosen Schuhen kommt man sich vor wie der Wegelagerer aus der Kinderfibel, wie der Schwerverbrecher aus dem Witzblatt. Eben das ist bezweckt. Zwar erblick ich mich selten, ein trüber Narziss, im Wasserspiegel der Blechkanne; aber ich sehe die Kameraden ... Schauermänner, Rinaldos, Karikaturen (über die man nicht lacht). Der uniformierte Mob, selber geschniegelt und gestriegelt, will uns gleichsam von aussen her zu Untermenschen hinabzüchten, zu einer Schundrasse, die sich von ihrer eignen deutlich abhebt. Man will den Kitsch- und Bilderbuchtyp des Deklassierten und Kriminellen, des Lumpenproletariers aus uns formen. So, wie diese Göring Daluege Fitzner Kramer Lipke Moser Rautenberg innerlich aussehen, nämlich verwahrlost, so sollen wir äusserlich aussehen.
Das Rasieren, nach ständigem Drängen bisweilen der Bande abgerungen, ist allemal ein Fest. Aber sie benutzt es, wie jede Gelegenheit, uns zu quälen. Sie gibt uns stumpfe Klingen und lässt einem so wenig Zeit zum Kratzen, dass die halben Stoppeln stehn bleiben. Sie befiehlt Kameraden, die nie einen Rasierapparat in der Hand gehalten haben, sich an uns zu versuchen, und wir kehren mit zerschnittenem Gesicht in die Zelle zurück - und nicht ohne zuvor "wegen Quatschens", das heisst wegen einiger beim Rasieren gewechselter Worte, mit Muskelkraft geohrfeigt worden zu sein.
Am ersten September werden meine Zellengenossen "entlassen", nämlich ins Untersuchungsgefängnis. Einer von ihnen hat kurz zuvor eine Klinge, eine nagelneue, in die Zelle geschmuggelt und kunstvoll in der Ritze eines kleinen Pappkartons versteckt. Den Karton lässt er zurück. Ich finde die Klinge; ich bin nachts allein. Welch eine Nacht des Zweifels und Grauens! Erst nach Stunden unsäglicher Gewissensqual ist der Entschluss reif, die Klinge nicht zu benutzen ... zu jener Manipulation, zu der so mancher Leidensgefährte solch Dingelchen benutzt hat, den man dann in seinem Blute auffand. Am Morgen gebe ich die Klinge ab.
Die Fingernägel (merkwürdig: manchen Kameraden wachsen sie gar nicht) wachsen mir ins Struwelpetrige: das Weisse nach zwei Monaten so lang wie das Fleischfarbne. Manchmal bricht einer ab. Nagelscheren sind so verboten, wie Rasierklingen, wie Messer. Eines Tages, beim Bärentanz, beauftragt Lipke einen als Monteur arbeitenden Gefangenen, mir mit einer Zange die Nägel abzuzwicken; erst in der letzten Sekunde rettet mich Sturmführer Palm – ich nenne gern den Namen dieses auch nach den Erfahrungen andrer Häftlinge anständigen SS-Manns; er erlaubt mir, beim Sanitäter eine Schere auszuborgen.
Ich kriege neue Kumpels und wechsle das Appartement. Zuletzt sind wir vier: in einer Zelle, die 23 Kubikmeter fasst. Die moderne Strafvollzugskunde fordert als Mindestmass für einen Gefangenen zwanzig Kubikmeter Luft; je sechs (knapp) kommen auf uns. Vier Mann, müssen wir auf drei Strohsäcken schlafen; übrigens auf dem nackten, dreckigen Sacktuch; die Laken sind längst eingezogen. Desgleichen die Überzüge der dünnen, harten, rauhen Pferdedecken. Kopfkeile (aus Stroh) im ganzen einer: für anderthalb Köpfe reichend. Dem kleinen kränkelnden Schneider Erich, Kommunisten aus Friedenau, überlassen wir einen Strohsack; wir drei Andern verteilen uns auf zwei. In der Mitte fleezt sich der fette Reichsbannerknabe Richard, Elektriker aus dem Berliner Osten, ein gewaltiger Schnarcher vor dem Herrn und, was die Bewegungen seiner Arme anlangt, während des Schlafs Verkehrsschutzmann; hätte sein (auch politisch) linker Nachbar Herbert, Maler aus Neukölln, nicht die Statur einer Sardelle, wär' er nicht nahezu eindimensional, dann würde ich, zur Rechten des lebhaften Klosses, statt einer halbierten Nachtruhe überhaupt keine haben.
Sie ist für uns alle ohnehin beeinträchtigt durch mitternächtliche Besuche des besoffnen Lipke, der brüllend kontrolliert, ob wir, seiner Order entgegen, Unterhosen anhaben, und der oft nachts auf dem Korridor exerzieren lässt.
Am fünften September werden sämtlichen Insassen des Hauses Zahnbürsten, Nagelbürsten und Seife fortgenommen. Angeblich sind in einem Stück Seife Bazillen eingeschmuggelt worden. Alle Seife soll untersucht werden, in ein paar Tagen sollen wir sie zurückerhalten. Bis zu meinem Abtransport, Ende Oktober, haben wir nichts zurückerhalten. Auch bleibt unbegriffen, warum die Bürsten für die Seife büssen müssen. Begreiflicher wird alles, als wir hören, dass sich gerade unsre Schinderstaffel im gegenüberliegenden Polizeigebäude häuslich niedergelassen hat. Da fehlte es gewiss an Utensilien; man requirierte sie halt. Räuberei oder sadistische Schikane – der Stil unsrer Zwangserziehung zum Schwein verschärft sich jedenfalls.
Mein Handtuch ist ein zerschlissener und von Anfang an schmutziger Geschirrputzlappen; nach sieben Wochen bekomme ich ein sauberes Handtuch. Der Handtuch-Individualismus ist freilich abgeschafft. Wir vier in der Zelle erhalten wöchentlich vier frische Handtücher, welche ausserhalb der Zelle in der obern Türangel übereinander befestigt werden müssen und die wir, notgedrungen, durcheinander benutzen. Zum Glück ist niemand von uns hautkrank.
Die Wascherei morgens geschieht in den ersten Wochen auf eine Art, dass es den niedersten Buschmann grausen würde. In einem kleinen Raum drängen sich um ein grosses schmieriges Ausgussbecken mit Wasserhahn zehn, zwanzig Gefangene, und, da jedem nur wenige Minuten gewährt sind, spülen sie kreuzweis ihre Kaffeetöpfe aus, sich den Mund, verrichten ihr Bedürfnis in das Becken, füllen querdarüber Wasser in ihre Waschschüsseln, die dann auf den Boden gestellt werden, giessen das schmutzige Wasser aus, einige nehmen die Waschung auch unmittelbar unter dem Hahn vor – alles kunterbunt-gleichzeitig; die Flüssigkeiten vermengen sich mitunter. An demselben Becken säubern wir mittags die Essnäpfe. Das Abflussrohr ist häufig verstopft. Eines Morgens, als die Jauche bis zum Rand steht, befiehlt man mir, mit einem verborgenen Stück Draht die Verstopfung zu beseitigen. Da offenbar nicht bloss erhebliche Mengen von Kartoffelklötzen den Abfluss verhindern sondern auch ein glitschiges Stück Gummidecke, das hineingerutscht ist, so nützt mein Stochern gar nichts. Ich melde das, nach ausführlichen Versuchen, und muss nun zur Strafe eine halbe Stunde lang meinen Arm untätig in die Jauche tauchen. – Das Becken wird abmontiert; man wäscht sich fortan auf dem Hof. Das bringt neue Nachteile mit sich, Verzicht auf Mundspülen, noch tollere Fixigkeit, besonders auch die Kombination mit Bärentanz und Latrine (natürlich immer erst Waschen, dann Latrine!), wo die Schüsseln lassen? wo die Seife? wo die nassen Handtücher? – dennoch ziehen wir diese luftigere und die Verrichtungen immerhin abgrenzendere Methode dem Spülraum ohne Spielraum vor.
Erst um Mitte September werden halbwegs ordentliche Waschzellen eingerichtet. Was nützen sie ohne Seife? Aber ich habe Glück. Genosse Erich, der täglich einige Stunden im Hause für SS-Leute schneidert (gratis, versteht sich, so hilft das Regime dem Handwerk), kommt mit Kameraden, die schustern in Berührung und bringt aus deren Stube uns allen nach und nach kleine benutzte Stücke Schusterseife mit, voll schwarzer Löcher von der Ahle ... appetitlich? Das ist nicht das Problem; das grosse Problem ist: wie diesen Schatz verstecken? Wir lösen es.
Hin und wieder ein "Brausebad" im Keller. Keine Erfrischung etwa, sondern die unerhörteste Strapaze. Eine Minute hat man zum Ausziehn Zeit, ein paar für die Brause (heiss und kalt; Gelegenheit zu Quälereien), eine Minute zum Abtrocknen, eine zum Anziehn. Alles unter Aufsicht des höhnenden, treibenden Mobs. Aus- und Ankleideraum für jeweils fünfzehn bis zwanzig Menschen: ein schmieriges unbeleuchtetes Loch, das kaum für fünf reichen würde. Gedränge wie bei der schönsten Kinopanik. Wohin mit der Wäsche? Sie fällt auf einen durch die Schuhsohlen Hunderter erdigen, benässten Steinboden, auf den auch die nassen Füsse nach der Brause, wie vor ihr, treten. Man kehrt halbnass, einen Teil der Kleidung über dem Arm, aufgerieben und vor allem schmutziger von diesem "Bad" zurück, als man gekommen war.
Aber noch fürchterlicher ist der Latrinenbalken. Auf dem Hof, vor der Dunggrube. Fünf, sechs Mann hätten nebeneinander auf ihm Platz. Aber immer acht bis zehn müssen sich gleichzeitig daraufsetzen. Hundert, hundertfünfzig Kameraden warten daneben in zwei Gliedern. (Auch während des Regens.) Jeder hat für die Erledigung etwa anderthalb Minuten Zeit. Dem Zögernden droht die aufsichtführende SS, "mit der Schere zu kommen". Notorisch Tripperkranke benutzen den gleichen Balken zu gleicher Zeit. Papier ist knapp. Ein Stoss beschlagnahmter alter Nummern der "Roten Fahne" reicht nicht lange. Unser in der Zelle mühselig aus Paketen aufgespartes Papier wird konfisziert. "Wischt euch mit dem Hemd ab, ihr Schweine!" Schliesslich holen wir vom Müllhaufen Wellpappe. – Ich habe zweimal je eine Woche lang keinen Stuhlgang gehabt.
Mitte September werden WC's installiert; nur bevorzugte Gefangene dürfen sie benutzen. Als ich – so ziemlich der gehetzteste, geschundenste, erniedrigtste hier – durch Schiebung eins für wenige Minuten ohne Gefahr benutzen kann, erlebe ich ein beinah heftiges Glücksgefühl. Nichts bezeichnet den Zustand im Columbia-Haus besser als diese Tatsache.
Anfang Oktober, endlich, sind die WC's Gemeingut.
Ich blieb, ein Rekord, fast dreieinhalb Monate in dieser Blut- und Kothölle.
Der jüngste Gefangene zu meiner Zeit war vierzehn, der älteste achtzig Jahre alt. Ob unter den zahlreichen Selbstmordversuchen einige gelangen, ist mir nicht bekannt. Aufsehen erregte der freiwillige Sturz zweier Kameraden vom obersten Stockwerk das Treppenhaus hinunter. Meine Statistik am Material von sechzig bis siebzig SS-Männern aller hier vertretenen Chargen hat ergeben, dass etwa fünfzehn Prozent dieser Leute anständige Menschen waren, etwa fünfundsiebzig Prozent sittlich gesinnungsloser Durchschnitt, der sich anpasst und mitmacht, etwa dreissig Prozent ausgemachte Sadisten. (Warum "Sadisten" – welche martern, wen sie lieben – meiner Überzeugung nach eine ungenaue fast falsche wissenschaftliche Bezeichnung für diese sexualpathologische Spielart ist und man präzis von "antifetischistischen Krudelisten" reden sollte, habe ich 1925 dargetan: "Verwirklichung des Geistes im Staat", Seite 265 und folgende. Ich bediene mich hier gleichwohl der populären Vokabel.) Das Sadistenpack drängt sich natürlich in solche Posten und hat die Führung. So wie es sich seit je in die Jugend-"Fürsorge" drängte. Über die Zivilberufe der Leute habe ich wenig ermitteln können, als dass ich das Recht zu klassencharakterologischen Hypothesen hätte. Manches spricht immerhin dafür, dass der sogenannte kleinbürgerliche Typ grausamer ist als der spezifisch proletarische. Unter den einfachen, unbesternten SS-Männern, die über mich zu verfügen hatten, benahm sich am anständigsten einer, der, wie er mir verriet, erwerbsloser Strassenfeger war.
Unbedingt bestätigt hat sich meine alte Erfahrung, dass roher Rassenhass nahezu ausschliesslich bei Unrassigen, bei faulen Mischungen, bei schlechtgeratenen, sozusagen objektiv hässlichen Menschen auftritt. Grober, niedriger, gemeiner, sich teuflisch bestätigender Hass überhaupt. Die "dinarischen", die "ostischen", die mongoloiden, die semitoiden Typen unter diesen deutschen SS-Männern, waren die übelsten Peiniger und bemerkenswert häufig; die paar wirklich germanischen ("nordischen"), die es gab, verhielten sich fast durchweg sachlich und menschlich. Das "nordische" Theorem ist halbrichtig ... und wird immer von denen vertreten, gegen die es zeugt. Den Rassegedanken in den Mittelpunkt einer Ideologie stellen werden nur Personen, die es nötig haben. Ein Deutscher muss sich, scheint‘s, hamitischer Züge, pygmäischer Statur, trauriger Engbrüstigkeit und eines Klumpfusses erfreuen, um zum Kriterium aller seiner Werturteile die lichte hohe Baldursgestalt zu machen. Fettkugeln überwerten giftig-antigeistig den Sport. Und nur ein vor sich selbst verlogener homosexueller Verdrängter hat es in sich, Chef einer Verfolgungsaktion gegen Sokratiker zu werden.
Dr. Kurt Hiller wurde im Oktober 1933 nach fünfzehn Wochen "Schutzhaft" aus dem Columbia-Haus entlassen und kam im gleichen Monat in das zum Konzentrationslager umfunktionierte Zuchthaus Brandenburg. Im Februar 1934 wurde Hiller in das KZ Oranienburg gebracht und dort Ende April 1934 entlassen. Noch im gleichen Jahr emigriert er in die Tschechoslowakeit und 1938 nach Großbritannien.
Quelle: Kurt Hiller, Schutzhäftling 231, veröffentlich 1935 als Fortsetzung über mehrere Ausgaben in: Neue Weltbühne.
„... halten wir auf dem Hof eines jener halb kasernen- halb zuchthaushaften Backsteingebäude, die der Gegend am Rande des Tempelhofer Felds ihr unerfreuliches Gepräge geben. Sollte das die berüchtigte SA-Höhle in der General-Papestrasse sein? Der Fahrt nach kaum; auch herrscht hier die SS. Also ein Haus, das ich nicht kenne. (Bald sollte sich herausstellen, dass die Öffentlichkeit es gleichfalls nicht kennt und dass man seine Existenz aufs strengste geheim hält.)
Wir müssen uns in einem engen halbdunklen Gang nebeneinander aufstellen... Vor jeden von uns tritt ein SS-Kerl, dicht, fast Nase an Nase. Ich schaue mir meinen an, leicht analysierend; er brüllt, ich Schwein solle zu Boden sehn... Er lacht mich an: ‚Solche weeche Neese, die lieb' ich besonders’ – und schon habe ich vier, fünf Fausthiebe im Gesicht, mit voller Boxkraft aus nächster Nähe...“
Auszug aus Kurt Hillers Bericht „Schutzhäftling 231“ von 1934/35