Guido Hartmann

Als politischer Gefangener im Columbia-Haus

Als ich am 11.4.1934 vom Dienst in meiner Behörde zurückkam, erfuhr ich von meiner Frau, daß in unserer Wohnung eine polizeiliche Haussuchung gemacht worden war, bei der alles durchwühlt und aus unserer Bibliothek eine große Zahl unserer belletristischen und natürlich auch weltanschaulichen Literatur beschlagnahmt wurden. Gleichzeitig sagte mir meine Frau, daß ich am folgenden Tag vormittags, also am 12. April, zu einer Vernehmung erscheinen solle. Ich hatte keine Ahnung, worum es sich handeln könnte.

Ich stellte mich also im Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz in dem mir angegebenen Zimmer ein. Noch glaubte ich nicht, daß ich diesen schon vor der Hitlerzeit von uns allen gefürchteten und berüchtigten roten Kasten nicht wieder verlassen würde.

Die Vernehmung seitens des offensichtlich fanatisch nationalsozialistischen, sicherlich neu ernannten Kommissars, spielte ich sofort bedrohlich, ordinär und höhnisch ab, fern der geringsten Menschenwürde und Ansehung meiner Person, schon mit brachialer Gewalt einbrechend, da ich die wirklich völlig absurden Behauptungen zurückwies. Die Folge war, daß ich sofort verhaftet wurde. Ich wurde in ein großes Sammelzimmer mit etwa 20-30 oder mehr Personen geführt.

Es waren meist Männer mittleren Alters und Leute in den Zwanzigern, von denen mir viele Namen aus der Zeit der Jugendbewegung, der sozialistischen und kommunistischen Jugendgruppen und der Parteiarbeit, meist nur namentlich bekannt waren, die zu treffen ich früher nicht die Gelegenheit hatte, aber sie in dieser unglücklichen Situation nunmehr antraf. Keiner sprach über seinen Fall, das war Gesetz. Einmal noch wurde ich zu einem Verhör geholt, mit bösen Augen trat einer von mehreren an mich heran, drohte mit Maßnahmen, denen ich wohl nicht standhalten würde, damit ich gestehen sollte. Meine größte Sorge jedoch war, daß sie erfahren hatten, welcher politischen Richtung ich in Wirklichkeit angehörte. Unter dieser Sorge stand ich danach noch lange Zeit - dank der guten Vorsorge meiner Genossen wußten sie es nicht. Zur Erklärung: Ich war dank der Aussage der minderjährigen Tochter eines früheren Genossen, der nunmehr einer illegalen Gruppe der trotzkistischen Richtung angehörte, in den Verdacht geraten, dieser anzugehören, weil dieselbe uns auf Anweisung ihres Vaters eines ihrer illegalen Blätter in den Türschlitz gesteckt hatte.

In unserem Raum im Polizeipräsidium waren wir bei Tag und Nacht, außer wenn wir zu Vernehmungen gerufen wurden, die meistens Stunden bis spät abends dauerten, fast nicht behelligt. Zudem regierten da noch die alten Wärter, ehemalige Zwölfender, oft noch aus dem 1. Weltkrieg, die oft eine unerwartete Menschlichkeit ausübten. Es herrschte unter uns, die wir allesamt politische Gefangene waren, die beste kameradschaftliche Stimmung und ein enorm rücksichtsvolles Verhalten. Ich habe mich mit vielen Prominenten und Unprominenten über alles Mögliche unterhalten können, alle beseelte eine unheimliche Angst vor dem Schicksal ihrer Familie. So trivial dies klingen möge, ich lernte dort so manche Kartenspiele, ja sogar das Legen von Patiencen kennen, bei denen nur 2 wirkliche Meister waren. Zu einer Vernehmung wurde ich zu meiner großen Erleichterung nicht gerufen - alle waren wir jedoch bedrückt zu sehen, wie manche zerstört von Vernehmungen zurückkamen.

Nach vielleicht 10-12 Tagen wurden viele Namen aufgerufen, nichts wurde gesagt, was passieren würde, und so war ich dann auch dran, auf den Hof des Alex hinunterzugehen und eine der grünen Minnas zu besteigen. Die Fahrt ging durch Berlin, soweit ich sehen konnte, westwärts. Mein Gedanke war: Richtung Oranienburg, zum KZ. Als wir in einer kleinen Neben- oder Parallelstraße einer größeren Straße hielten, ahnte ich nicht, daß dies vor dem berüchtigten  C o l u m b i a h a u s  war. Ich wußte auch damals nicht, daß diese Strafanstalt aus der Kaiserzeit stammte und unter dem Namen "Vater Philipp" gefürchtet war, also ein Militärgefängnis.

Wir wußten auch nicht, daß wir noch nahe in Berlin, im Bezirk Tempelhof, waren. Nach dem Aussteigen wurde nicht viel Federlesens mit uns gemacht, wir wurden sofort in die Einzelzellen getrieben, ich in den ersten Stock, soviel ich glaube, im Ostflügel des, wie ich später vermutete, hufeisenförmig angelegten Gefängniskomplexes. Noch nie hatte ich mich so klein gefühlt wie in dieser völlig öden, kleinen länglichen Zelle, mit getünchten Wänden, einem Fenster gegenüber der Tür, hoch, tabu für uns, zwar geöffnet, nur "möbliert" mit einer bettartigen Pritsche, bezogen mit einer blaukarierten mit Stroh gefüllten Bettdecke (oder auch nicht so gefüllt?), eisernen Gestells mit Unterlage. Die getünchten Wände wenigstens waren nicht ganz leblos: auf ihnen waren die Kalendarien von sicherlich alten Muschkoten eingeritzt. Nicht lange blieb ich allein, da kam ein Naziwärter in Uniform. Erst guckte er durch ein Guckloch, öffnete die Tür schlagartig. Ich hatte mich etwas auf das Bett gesetzt. Er brüllte mich sofort an und befahl, daß ich tagsüber überhaupt nicht sitzen dürfe und überhaupt, wenn er käme, sofort stramm stehen und eine Meldung zu machen habe. Häftling Nr. Sowieso, Zelle Nr. Sowieso.

Von draußen hörte man den ganzen Tag Kommandos. Mit einer Schüssel aus Blech und mit einem Löffel mußte an jedem Mittag herausgetreten werden, um ein Essen stets in Suppenform entgegenzunehmen. Trotz eines anfänglichen Widerwillens trieb mich der Hunger dazu, den Inhalt einer Schüssel anzunehmen. Hinterher mußte die Schüssel im Eiltempo in der Toilette unseres Flurs mit kaltem Wasser gereinigt werden, was nicht leicht war, da im Essen immer Hammeltalg enthalten war. Jeder gab sich schon die größte Mühe, um nicht noch extra bestraft zu werden.

Wenn jemand austreten mußte, so hatte er dies durch Hinauswerfen eines Zeichens in der Zellentür dem draußen Postierten anzuzeigen. Man mußte froh sein, wenn er einem bald öffnete.

Jeweils um eine mehr oder weniger bestimmte Zeit am Vormittag mußten alle, sobald die Türen geöffnet wurden, auf den Flur hinaustreten und im Laufschritt nach vorne zu einem Aufstellen in Reihen zu dritt hineilen. Anfangs war dies für mich keine Schwierigkeit, doch später, wo ich plötzlich einige Bekannte von mir von früher sah, richteten wir es so ein, daß wir nebeneinander oder vor- oder hintereinander zu stehen kamen. Dann konnten wir uns einiges zuflüstern - darüber noch später. Eine Treppe hinab, ging es auf den Innenhof, wo wir in Kolonne herummarschierten und auf Befehl bestimmte damals aufgekommene treudeutsche und Nazilieder zu singen hatten. Die Bewegung tat uns sicherlich gut, und manche der Lieder waren auch uns als Wanderlieder bekannt. Nach etwa 2 Tagen wurden wir alle zu einer sozusagen Gesundheits-Untersuchung nach parterre beordert, wo wohl die Dienst- wie Privaträume der Wachmannschaft inclusive ihres Kommandanten lagen. Natürlich wußten wir dies nicht, wozu wir aufgeboten wurden. Im unteren Flur mußte jeder, ehe er aufgerufen wurde, mit dem Gesicht zur Wand stehen. Wehe, wenn er seitwärts guckte, dann bekam er einen Stoß nach vorn. Später erfuhr ich vom Genossen Paul Gesche, den ich damals noch nicht kannte, von dem ich erst nach dem Kriege hörte, daß er als kommunistischer Widerstands- und Untergrundkämpfer in Plötzensee auf dem Schaffott geendet hat, daß ihn der Arzt in Anführungszeichen, vielmehr wohl ein SS-Mann, Heilgehilfe von Beruf, zu einem Übertritt in die SA oder gar SS werben wollte, weil ihm sein arisches Aussehen so gut gefallen habe. Eine andere Begegnung hatte ich mit einem Freund aus der freideutschen Wanderbewegung, mit Paul Schulz. Er oder besser seine Freundin, mit denen ich privat befreundet war, hatten mich dann auch politisch beeinflußt. Ich wußte inzwischen aber auch, daß er nicht mehr mein Genosse war - wie das Schicksal so will, er gehörte derselben Richtung an, wie er mir später in Kassibern mitteilte, wie der, deretwegen ich nun in der Klemme saß. Seine Rührigkeit, mit mir in Verbindung zu kommen, war mir deswegen nicht so angenehm. Er war es, der mir beim Antreten Papier zum Schreiben und Schreib (Bleistiftart)minen in die Hände schmuggelte, den ich vorsichtig bei Tage aus einem Versteck in meiner Matratze bei geeigneter Zeit hervorholen konnte und der mir half, über den Stumpfsinn des langen Tages in einer völlig toten Umgebung hinwegzukommen. Leider konnte ich ihn später nicht einem evtl. Freund übergeben, aber sicher hat ihn mein Zellennachfolger, wenn er findig war, gefunden.

In der Zelle durfte keiner so leicht in die Nähe des Fensters kommen, aber jedes Geräusch von außen, z. B. die Gesänge der Vögel, und dann auch von dem Tempelhofer Feld, z. B. am 1. Mai, waren mir eine gewisse Freude. Natürlich war uns der 1. Mai, den die Nazis nun in raffinierter Weise mit ihrem Klimbim und mit ganz anderem Inhalt feierten, auf die die Berliner Arbeiter und Angestellten absolut nicht hineinfielen, wie sie glaubten, gerade nicht mehr ein freudiger Gedanke für uns. Aber es war so schön, noch von Gefängnis und Verfolgung unbehelligt menschliche Stimmen und Musik zu hören.

Bei der Wachmannschaft des Columbiahauses gab es einen, von dem man sagen konnte, daß er wohl ein großes Maul hatte, aber ein gewisses Gemüt. Wir vermuteten, daß er an die großen Sprüche von einem nationalen Sozialismus glaubte. Ob er ein Judenfeind war, habe ich nie erfahren. Es gab von diesen Banausen, die uns traktierten, aber viele, die dies waren. In unserer Bewegung bestand die Frage des Antisemitismus überhaupt nicht. Erstenmals haben wir als Genossen keinen danach beurteilt, aus welchen Kreisen, Religion oder Rasse er kam, sondern haben ihn nach seiner Gesinnung, seinem Charakter, seinen Fähigkeiten und der Hingabe zur Sache eingeschätzt. Zuverlässigkeit und Arbeitseifer standen im Vordergrund, ebenso war es in der Frage des weiblichen Geschlechts. Bei uns standen viele Frauen an der Spitze der Organisationen, viel mehr als sogar heute, mußten sich auch durch Erfolge bewähren. Hier aber im Columbiahaus veranstalteten die Wärter ein ekelhaftes Affentheater mit den Häftlingen, die sie als von jüdischen Voreltern abstammend erkannten. Nicht nur, daß sie sie den ganzen Tag malträtierten, mußten allein sie unsere Latrinen täglich säubern.

Während der ganzen Zeit, da ich dort war, hörte ich selbst im ersten Stock und noch ganz hinten zum Tempelhofer Feld angrenzend, abends zumeist, entweder den Lärm ihrer Siegesfeiern bei Alkohol, und dies ständig, aber zuletzt laute Auseinandersetzungen und Krawalle untereinander. Es hat, wie ich auch nun von Paul Schulz hörte, der oft, als Tischler von Beruf, das Glück hatte, nicht immer in seiner Zelle sein zu müssen, und für allerlei Befehlshaber dieser Nazihorde arbeiten konnte bzw. mußte, standen sich da zwei Richtungen mindestens gegenüber. Die der SA der der SS. Erst viel später, in Plötzensee, wo ich mit mehreren Genossen zusammenkam, die auch durch das Columbiahaus gegangen waren, hörte ich, daß auch der Kommandant des Hauses bei der Röhmaffäre in seinem Hause mit vielen andern Freunden erschossen wurde. Diejenigen Häftlinge, die in der Nähe der unteren Regionen eingesperrt waren, mögen mehr von der Art der Gegensätze mitbekommen haben.

So plötzlich wie ich gekommen war mit vielen andern, durften wir zu unserem Glück am 25. Mai 1934 von dieser Hölle scheiden. Offiziell ist von der Zeit dort in der Bescheinigung, die ich nach 1945 erhielt, überhaupt nicht die Rede. Ich war danach am 25. Mai 1934 nur vom Polizeipräsidium aus in das Untersuchungsgefängnis Berlin Alt-Moabit eingeliefert worden. Wir konnten insofern vom Glück sagen, daß wir nicht in das KZ Oranienburg gekommen sind; denn dort sind offensichtlich im Laufe der Zeit die entsetzlichsten Foltermethoden entwickelt worden. Aber schon im Haus der SA in der Voßstraße und an anderen Stellen sind ab März 1933 Gefangene, die die Nazihorden überall machten, zu Tode gequält und vorsätzlich gezwungen worden, von Fenstern im Dachgeschoß herunter auf das Trottoir zu springen, wie im Falle eines berühmten Schauspielers, der Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, bei welchem ich auf dem Wege zum Dienst in schummriger Morgenzeit Zeuge war.

Das Columbiahaus hat nicht ein Ende gefunden, weil es üblen Dingen diente, sondern weil es zu dicht bei Berlin, noch in der Stadt, lag. Zudem wurde sein Standort für die Vergrößerung des Flughafens Tempelhof zu Kriegszwecken gebraucht.

Bericht von Guido Hartmann vom 12. November 1990 für den Band: Kurt Schilde und Johannes Tuchel: Columbia-Haus.Berliner Konzentrationslager 1933 - 1936. Hrsg. vom Bezirksamt Tempelhof von Berlin, Berlin 1990, S. 112 ff.

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