Henry Marx
Ich sitze [am Tag der Festnahme, dem 22. Juni 1934] immer noch auf der Bank im Geheimen Staatspolizeiamt in der Prinz-Albrecht-Straße, die mir bald zum Symbol meines Zustands wird. Endlich wird es lebendig im unterirdischen Verlies: Schlüssel drehen sich in den Schlössern, kreischend öffnen sich die Türen, langsame Schritte bewegen sich auf meine Bank zu. Man heisst mich aufstehen. Ich bekomme meine Sachen wieder ausgehändigt und finde noch ihrem alten angestammten Platz in den vielen Taschen meines Anzugs.
Zum ersten Mal trete ich in Reih und Glied an: es sind noch acht andere Menschen, die gleich mir die nächste Station gemeinsam haben sollen. Das Klingeln an der Eingangspforte scheint unserem weiteren Schicksal zu gelten. Herein kommt ein Schupo, der den Transport leiten soll. Ich wusste nicht, wohin. Draussen auf dem Hof war einer der Polizeiwagen für uns bestimmt. Mit seltsamen Gefühlen bestieg ich die "Grüne Minna". Durch die einbrechende Dämmerung fahren wir, nur durch einen Spalt sah ich die Strassen und Plätze Berlins. Wo wir waren, konnte ich nicht feststellen, auch lähmte mich jetzt schon das Bewusstsein des Weitertransports. Obwohl ich in Gesellschaft war, wünschte ich mich allein, so unwohl ich mich auch vorher in der Einsamkeit meiner Bank gefühlt habe. Scharfes Bremsen: wir werden durcheinandergeworfen. Das Ziel ist erreicht: es hiess, sich wieder an ein neues Milieu zu gewöhnen.
Nun war es schon dunkel geworden. Zeit zu Betrachtung des Hauses gab es nicht. In wenigen Augenblicken waren wir im Innern des Gefängnisses (denn um ein solches schien es sich zu handeln). Jetzt teilte sich die Gruppe. Vier Mann, darunter ich, wurden durch mehrere Gänge geführt. Auf ein Haltkommando blieben wir stehen. Als erster wurde ich in ein Zimmer gerufen. Der Abend wirkt irgendwie friedfertiger, man spürt in sich nicht mehr dieselbe Aggressivität. Worte verhallen jetzt an der Bereitschaft zur Ruhe, jetzt löst sich zum erstenmal die Spannung, die bis dahin schon seit Stunden zusammengekniffenen Lippen machen einem müden Lächeln Platz. "Kommt Ihnen die Sache komisch vor?" Dieser Anruf lässt sofort das alte Spannungsverhältnis wieder entstehen. Aber der Körper naht sich jetzt dem Ende seiner Kräfte. So erträgt man eine inquisitorische Personalienfeststellung, die Abnahme sämtlicher Sachen bis auf ein Taschentuch und einen Kamm mit Gleichmut. Brieftasche, Notizbuch, Strumpfhalter, Gürtel, Geldbeutel, Taschenmesser und Uhr: eines wandert nach dem andern in fremde Hände. Und dann unterschreibt man zweimal mit ungewohnter Feder: es sind nur noch aneinandergereihte Buchstaben, kein Name mehr im Bewusstsein der persönlichen Würde geschrieben.
Draussen trete ich wieder an. Jetzt sind die anderen an der Reihe... Nachdem wir vier fertig sind, geht es im Gänsemarsch durch wieder andere Gänge. Man hat kein Orientierungsvermögen mehr. Wieder halt vor einer Tür. Auf das Rufen des begleitenden Beamten eilt ein kleiner, schmächtiger Häftling herbei. Wir bekommen von ihm zwei Decken, ein Hemd, ein Handtuch, einen Esstopf, einen Trinktopf. Damit ziehen wir weiter, nun treppaufwärts. Wir bekommen unsere Zellen zugewiesen, ich habe Zelle 103 und die Nummer 3096. Noch wenige Minuten und ich bin zum ersten Mal hinter einer Tür, die von aussen verschliessbar ist. Aber gerade jetzt ist zum Nachdenken nicht viel Zeit. Ich bin todmüde, werfe mich auf den Strohsack, der mir als "Bett" dient. Für diese Nacht behalte ich meine Hosen an. Ich schlafe gleich ein, noch letzte, seltsame Gedanken wälzend...
Neuer Tag
Der erste Dämmerschein weckte mich. Ohne Uhr konnte ich nicht wissen, wie spät es war. im Halbschlaf vergingen Minuten, vielleicht Stunden. Allmählich wurde es in dem Bau lebendig. Bald erscholl eine laute Stimme: "Aufstehen!" So begann ich den ersten Tag als Gefangener. Ich zog Strümpfe und Schuhe an, schüttelte meine Strohsack auf, legte die beiden Decken zusammen. Dann wurde auch schon die Tür aufgeschlossen: es ging zum Waschen. Neben meiner Zelle war dieser Raum. In den Seifenbehältern lag etwas Schmierseife, mit der man die tägliche Prozedur des Waschens vornahm. Gleichzeitig wurden auch die im selben Raum befindlichen Aborte benutzt, dann und wann wurde man zur Eile angetrieben. Die Freude, sich mit kaltem Wasser zu erfrischen, wurde durch das Bedrückende hastender Menschenleiber, durch das Ausströmen gierig-eifrigen Dranggefühls völlig gemindert. Eigentlich war ich froh, wieder in meiner Zelle zu sein.
Nun konnte ich mich etwas genauer umsehen. Ich befand mich auf der Nordostseite des Gebäudes, die Stäbe meines vergitterten Fensters gingen nach dem Hof, einem der üblichen Gefängnismittelpunkte, bepflanzt mit Kastanienbäumen, eingeschlossen auf drei Seiten und nur auf der vierten Ausblick auf eine hohe Mauer gewährend. Ich mass meine Zelle. Wenn ich mich von der Tür zum Fenster bewegte, waren es genau 13, von Wand zu Wand 6 1/2 Fusslängen. Die Pritsche war das einzige "Mobiliar". Dass ich noch immer nichts zu essen bekommen hatte, wunderte mich nicht zu sehr, denn der "Betrieb", den Zeiteinteilung waren mir noch fremd. Stunde um Stunde verging. Worüber man alles nachdachte, ist heute dem Gedächtnis entschwunden. Dafür sind die Tatsachen, die Vorgänge umso stärker haften geblieben. Aber die zentrale Frage war natürlich die Freiheit, negativ ausgedrückt als das Bestehende: die Haft. Darum kreiste der Gedanken Flug, zog er oft auch noch so weit weg.
Die Nerven glühten und fieberten nicht mehr wir Kohlenfäden tags zuvor. Trotzdem fühlt man sich irgendwie nervöser, denn das Alleingelassensein bedingt einen schwächer werdenden Willen. Ich wusste noch immer nicht, wo ich war. Das fast ununterbrochene Dröhnen der Flugzeuge liess mich vermuten, dass ich in der Nähe des Flugplatzes Tempelhof war. Aber so sehr ich auch nachdachte: ich kannte kein Gefängnis in dieser Gegend. Doch die Ungewissheit über den Ort meines Aufenthalts beschwerte mich nicht allzu sehr, eher schon ein immer stärker werdendes Hungergefühl. Stunden mussten schon seit dem Aufstehen vergangen sein. Nachmittags, als ich austreten musste, meldete ich meinen Hunger an. Es stellte sich heraus, dass ich am Morgen vergessen worden war. Zufällig oder absichtlich? Aber dieser Beamte wurde offenbar kurz danach abgelöst, und das versprochene Essen blieb aus.
Inzwischen hatte ich auch meine Verbindung zur Aussenwelt entdeckt: wenn man einem rechts vor der Tür angebrachten Stift berührte, schob sich draussen eine Klappe vor. Diese Einrichtung wurde "Fähnchen" genannt. Die Abgeschlossenheit wurde quälend. Der monotone Gesang der Flugzeugmotoren, das enervierende Kreischen einer im Hause befindlichen elektrischen Säge, rauhe Männerstimmen, Militärstiefelschritte: das alles ergab einen übeltönenden Klang. Das fast versöhnliche Pfeifen munterer Spatzen verstärkte das Unerträgliche des Eingeschlossenseins. Gingen meine Blicke einmal auf den Hof, schreckte ich doch gleich wieder zurück. Der enge Freiraum, einem Luftschacht vergleichbar, wirkte noch bedrückender als die Zelle. Denn nichts ist schlimmer als eingezwängte Natur. Die Illusion einer Freiheit ist gefährlicher als finsterste Gefangenschaft.
Schlafen verboten
Aber das Bedürfnis nach Luft ist an diesem Tage gross. Doch in allen Gefängnissen der Welt – so kam es mir schmerzlich zu Bewusstsein – geniesst man erst am zweiten Tag der Haft eine solche "Vergünstigung". So war es auch hier. Dieser erste Tag gehörte mir. Ich wanderte in meiner Zelle ruhelos auf und ab, vor- und rückwärts, bis Müdigkeit die ermatteten Glieder auf den armseligen Strohsack drückte. Aber Schlafen war untertags verboten. Also musste man sich trainieren, halbwach zu schlafen, Erquickung und Nervenanspannung hielten sich dann die Waage.
In diesem Zustand des Halbschlafs wird man hellsichtig. Zuchtvolles Fabulieren führt zu den seltsamsten Ergebnissen. Man erlebt Dinge, die sich dem wachen Bewusstsein nie aufgedrängt hätten, die aber auch die Symbolwelt des Traumes niemals hätte hervorbringen können. Es war eine Art Trance, die ihren Nährboden in den Geschehnissen jüngst erlebter Stunden fand. Begreiflich, dass nicht immer Angenehmes die Sinne umgaukelte... Das Nachdenken, das Grübeln über Unabänderliches zermürbte langsam den gesunden Geist. Die Ereignisse beginnen sich zu verwirren, die eigene Lage scheint ins Bedrohliche emporzuwachsen, kaum ist noch eine Kette folgerichtiger Gedanken zustandezubringen. Schlaffheit des Körpers, Müdigkeit des Herzens, Trübung der Augen – drohend-vernichtend nähert sich, was man als Haftpsychose bezeichnet. Ich kenne diese Erscheinung aus meinen Studien nur allzugut, kann ihr aber nicht entrinnen. Gewaltig packt sie ihr Opfer, und man ist, inmitten kalter Wände, Kälte rings umher, geschlagen, ehe noch der Kampf beginnt. Zähneklappernd fügt man sich seiner Bestimmung. Jedes Aufbegehren wird sinnlos, es zerschellt an der bedrückenden Umgebung. Man möchte wirklich mit dem Kopf gegen die Wand rennen; man ist in einem Zustand, der das Zerspringen der gehirnlos gewordenen Schädeldecke als wünschenswert, ja, segensreich empfinden würde.
Verzweifelnde Schläge gegen die eisenverkleidete Tür verhallen in der Stille des Gefängnisgangs, aber von der anderen Seite tönen dumpfe Schläge gegen das ersterbende Ohr. Ist es ein Echo? Nein, denn wenn man aufhört, gehen die Geräusche weiter, um erst nach einiger Zeit zu verstummen. Auch dort, und überall in diesem Haus, sind Menschen, blutvoll und stark einst in der schönen, spannungsgeladenen Freiheit. Hier hat sie, die sonst Tod und Teufel nicht scheuen, der Dämon der Psychose gepackt. Wir sind alle faltig geworden... Es dauert mehr als 24 Stunden, bis dieser Zustand überwunden ist. Dann wird der Aufenthalt in der Zelle zur Gewohnheit. Klare Gedanken überströmen wieder verworrene Gefühle.
Im Gleichtritt
Am Sonntagnachmittag öffnet sich die Tür meiner Zelle rascher und weiter als sonst. Der am Vortag so ersehnte Gang in die "Freiheit" des Gefängnishofs wir jetzt eher als Störung betrachtet. 48 Stunden lang haben sich die Füsse kaum oder nur in dem ewig-gleichen, engen Raum bewegt. Jetzt sollen sie wieder auf Erde treten. Bei dieser Aussicht schwanken die Knie. Aber ich reisse mich zusammen. In Reih und Glied trete ich an. Es geht die Treppen hinab, Hände auf dem Rücken. Draussen ist hellster Sonnenschein. Mann geht hinter Mann, ein trauriger Zug formiert sich. Aber ich bin wieder einer unter vielen, die dasselbe im gleichen Augenblick erleiden. Die Luft berauscht, man streckt den Hals der Sonne entgegen. Links um, rechts um, kehrt: die Kommandos werden mechanisch ausgeführt. Man denkt: am vergangenen Sonntag warst du noch in Neubabelsberg, hingestreckt auf das herrliche Grün in der Sonnenhitze dieses Sommers. Sollte mir das noch einmal vergönnt sein? Der Grunewald, der Tiergarten, alle die Plätze und Anlagen waren in weite Ferne gerückt. Quälende Gedanken beunruhigen die eben erst befestigte Seele.
Im Gleichtritt trotten wir dahin, von Zeit zu Zeit kommandiert ein mitleidloser Beamter. Man betrachtet die Männer um sich: ärmliche Gestalten zumeist, denen man die Haft ansieht – breite Ränder unter den Augen, ein erstorbener Blick, oft hinter Brillengläsern versteckt, bleiche, leere Gesichter, unrasiert. Auch mein Bart sprosst ja nun schon seit mehr als 48 Stunden: wie froh bin ich, dass ich keinen Spiegel habe. Man hält sich strengan das Schweigegebot. Kein Ton wird laut. Nur das Knirschen des Kieses, die Stimme des Aufsehers sind zu hören. Auch hier ist man im Grunde nur Zelleninsasse. Als ich wieder oben bin, bin ich müde, wie nach einem tagelangen Marsch. Bald gibt es Essen. Einen Brotkanten mit Schmalz, ein Topf Kaffee, einen Abend wie den anderen, wie ich später feststellen konnte. Aber ich esse mit einem gewissen Appetit, denn der Kräfteverbrauch ist ungeheuer. Nach dieser Mahlzeit kommen die schönsten Stunden des Tages. Wenn die Finsternis langsam hereinbricht, wenn sich aus derhelltönenden Symphonie der munteren Spatzen einer nach dem anderen wegschleicht, bis mit schrillem, abgehackten Pfiff nur noch ein einziger übrigbleibt, um dann auch zu verstummen, wird man seltsam ruhig. Die Dunkelheit besänftigt die zerrissene Seele...
Ich möchte gern meinen Eltern schreiben, um sie wissen zu lassen, wo ich bin, und ersuche eines Abends einen SS-Mann, mir doch Papier und Bleistift zu besorgen, damit ich dies tun kann. Er blickt mir streng in die Augen: "Wenn de det haben willst, dann schreib die Eltern, dass sie dir det schicken sollen." Ich muss an mich halten, um nicht laut zu lachen. Der Mann schlägt die Tür glücklicherweise rasch zu.
Ein neuer Tag zog heran. Ich "sass" noch immer. Wie lange mochte dieses Dahindösen in enger Zelle noch dauern? Am Morgen werden wieder Zweifel an der tags zuvor gewonnenen Lösung wach. Allgemeine Unsicherheit. Neuerliche, massvolle Unruhe. Wiederaufglühen der Nervenspitzen. Nervöses Auf- und Abgehen. Zur Beruhigung des Körpers zwinge ich mir einen Ein-Kilometer-Gang in der Zelle ab. Bei einer Schuhlänge von etwa 30 cm ins meine 13 1/2 Fuss lange Zelle 4 m lang: in jeder Richtung 125 mal durchschritten bedeutet einen Kilometer. Aber nach je 80 Längen schwindelt mir. Dieser Strapaze bin ich nicht gewachsen. Ich werfe mich auf den Strohsack, entkräftet, ausgemergelt, und verzweifelt. Der Vormittag will kein Ende nehmen. Ohne Uhr, ein Opfer der langsam schleichenden Zeit, ohne Beschäftigung, der Öde der Situation voll ausgeliefert, dämmere ich dahin. Allmählich macht man sich mit dem Gefängnisleben vertraut und befreit sich auch von allen Selbstvorwürfen. Man findet sich für seine Person mit dem Schicksal ab. Was werden meine Angehörigen machen? Wissen sie, wo ich bin? Noch habe ich keine Lebenszeichen empfangen, selbst verhindert, ihnen eines zu geben. Durch die dicken Mauern möchte ich ihnen zurufen, dass sie sich keine Sorgen machen sollen.
Dann beginne ich, Verse zu bilden. An einem still-zufriedenen Nachmittag werden es Hunderte. Ich bedauere, dass ich nichts aufschreiben konnte. Ich glaube, ich habe ganze Epen "gedichtet". Unaufhörlich strömen einem Reime zu, und sie ergeben immer auch einen Sinn. Erlebnisse mischen sich mit der hier immer weitschweifenden Phantasie. Fast alles ist im Ich-Ton gehalten, nur gelegentlich entspringen allgemein gültige Zeilen dem Verstand. Ein herrliches Mittel zur Selbstbetäubung. Manche Stunde geht so dahin. Manche ausgesprochene Wahrheit, manches Bekenntnis erleichtert das Gemüt. Oft wird dasselbe immer wieder probiert, bis es eine passende Form findet. Es ist ein seltsames Gefühl, tagelang unbelauscht zu sein, alles vor sich her sagen zu können...
Montag abend erfuhr ich endlich, wo ich mich befand. Ich wurde gefragt, ob ich mich rasieren lassen wolle. Dankbar ergriff ich die Gelegenheit. Am Ende des langen Gefängnisgangs war der Barbier, wohl auch ein Häftling. Es mag nach 8 Uhr abends gewesen. Eine Frage an den Friseur brachte mir Kunde vom Ort meines Aufenthalts: "Columbia-Haus" wurde diese Stätte genannt, was mir jedoch nichts weiter als einen Namen bedeutete. Erst später erfuhr ich von der Vergangenheit dieses Hauses als kaiserliches Militärgefängnis. Ich rasierte mich selbst, als Spiegel diente eine trübe Glasscheibe. Wieder in meiner Zelle, stellte ich fest, dass noch manches Gesichtshaar stehengeblieben war. Ich "erfand" dann auch eine Methode, mioch zu spiegeln. Ich drehte die Brille um, hielt sie vor die Augen und sah so ein zwar stark verkleinertes, aber dennoch deutliches Bild meines Gesichts. Aber die Bespiegelung bereitete mir nicht allzuviel Vergnügen.
Mehr Abwechslung
Am nächsten Tag sollte doch wieder eine Abwechslung kommen. Ich bekam meinen Schuthaftschein ausgestellt, nachdem ein Kommissar der Gestapo mich noch einmal ausgefragt hatte. Seine stille, bescheidene Art stand in wohltuendem Gegensatz zu dem vielen Jungvolk, das sich auf der Geheimen Staatspolizei herumtümmelte. ... Mit meinem Schein trottete ich in die Zelle zurück. Dann las ich: "Der Preussische Ministerpräsident (Chef der Geheimen Staatspolizei)" stand in der linken oberen Ecke. Rechts oben das Datum (26. Juni 1934), dann die Anschrift meiner Privatadresse (Berlin-Halensee, Eisenzahnstrasse 5), schliesslich ging's los: "Auf Grund der Notverordnung des Herrn Reichspräsidenten vom 27. Februar 1933 zum Schutz von Volk und Staat werden Sie bis auf weiteres in Schutzhaft genommen, weil Sie Auszüge aus einer im Inland verbotenen ausländischen Druckschrift zum Zwecke der Vervielfältigung hergestellt haben". So etwa lautete der Satz, der meine weitere Existenz doch wieder auf eine rechtlilche Grundlage stellte. Das Vorhandensein eines Aktenstücks beruhigte mich ungemein, da ich nun an die behördliche Bearbeitung meines Falles glaubte...
Noch ein Ereignis beglückte mich an diesem vierten Hafttag: von zu Hause bekam ich ein Paket mit Wäsche und etwas Schokolade, allerdings ohne schriftliche Mitteilung. Also kannten sie meinen Aufenthaltsort, und das Gefühl ihrer Sicherheit gab auch mir Ruhe... Damit noch nicht genug: am selben Tag wurde ich auch zum Sanitäter gerufen, so dass ich fast dauernd unterwegs war. Es ging schon auf den Abend zu. In der Sanitätstube sass ein kleiner, dicklicher Mann, nicht unsymphatisch, mit einem Stich ins Akademische. Tatsächlich war er, wie er mir erzählte, ein durchgefallener Kandidat der Medizin und hatte sich hier einen Posten ergattert. Seine Besorgnis um die Gesundheit der Häftlinge war sicherlich höchst ernsthaft, aber mit unzulänglichen Mitteln und Kenntnissen konnte er Krankheitsprobleme nicht meistern und verordnete wohl am liebsten Baldrian, Aspirin und Rizinus. Meistens mag dies ja auch geholfen haben.
Mich fragte er nur, ob ich geschlechtskrank sei. Als ich dies verneinte, machte er hinter meinen Namen eine Null. Jedoch sah ich auf der aufgeschlagenen Seite etwa 90 Kreuze hinter den Namen, was wohl das Gegenteil zu bedeuten hatte. Ich wagte einen Vorstoss: ich bat ihn, ob er mir aus der Gefängnisbücherei nicht ein Buch beschaffen könne, was er versprach. Er war es auch, der mir zwei Tage später einen Bleistift gab (Papier hatte ich inzwischen erhalten), so dass ich schreiben konnte, und er hat - wie ich später feststellte - den Brief pünktlich befördert. Als dieser Brief freilich meine Eltern erreichte, war ich nicht mehr in dem Gefängnis, sondern schon auf dem Weg zu einer anderen Stätte...
Das kam so: Innerlich fühlte ich, dass ich entweder Samstag von hier fortkäme oder Anfang der nächsten Woche entlassen würde. In den vergangenen Tagen waren besonders viele Häftlinge weggekommen, ohne dass ich wusste, wohin sie die weitere Reise führte. Samstag früh - es war ungewöhnlich lange stillgeblieben - setzte plötzlich ein heftiges Klopfen an meiner Tür ein: "Machen Sie sich fertig!" rief in die nun geöffnete Zelle die mir unbekannte Stimme eines Beamten. In fieberhafter Eile, denn die ist in solchen Fällen vonnöten, zog ich mich an... Die leise Hoffnung, freigelassen zu werden, taucht wieder auf, denn man weiss ja nicht, wozu man sich "fertigmachen" soll...
Da, wo ich vor einer Woche hereinkam, stehe ich jetzt wieder, doch gewitzigt und mit Gleichgültigkeit gegen die weiteren Ereignisse gewappnet. Meine Sachen werden mir wieder ausgehändigt, darunter auch mein Geld auf den letzten Heller (ich hatte bei meiner Verhaftung RM 24,51). Ich stand mindestens 20 Minuten auf den Steinfliesen. Ich versuchte, mich ein wenig am Fenstersims anzulehnen, doch das wurde mir nicht gestattet. Um mich herum standen andere Häftlinge, einige wollten mit Bestimmtheit wissen, dass sie entlassen würden. Würde ich auch unter diesen sein? Unvermutet trat ein Schupo auf mich zuu mit einem Zettel in der Hand, auf dem wohl mein Name stand, denn er rief mich an: "Transport nach Oranienburg". Ich war im Bilde.
Henry Marx, Tagebuchauszüge, in: "Aufbau" vom 17. Juni 1988, S. 24 f.