Werner Hirsch

Dort [im Geheimen Staatspolizeiamt] erklärte mir ein Kommissar mit höhnischem Grinsen: "Wir bringen Sie jetzt an eine Stelle, da können Sie darüber nachdenken, was Sie über die Politik der KP in Leipzig für Aussagen gemacht haben."

Diese Stelle war das Columbia-Haus. Als ich dort eingeliefert wurde, wußte ich nicht, wo ich mich befand. Erst zehn oder zwölf Tage später erfuhr ich es, als ich bei irgend einer Gelegenheit zum ersten mal ein Flüsterwort mit einem mir bekannten anderen Gefangenen wechseln konnte. Meine Zellentür bekam die Aufschrift: "Darf die Zelle nicht verlassen." Das hatte zur Folge, daß ich nur einmal, zu Weihnachten, für eine kurze Zeit am sogenannten "Bärentanz", eine Art Freistunde auf dem Hof, teilnehmen konnte. In der Zelle, wo es nur Strohsack, Pritsche, Decke, Ess-Schüssel und Trinkbecher gab, durfte man nicht einmal einen Kamm oder eine Zahnbürste bei sich haben. Der nächtliche Schlaf wurde annähernd alle halbe Stunde durch Wecken seitens der SS-Leute gestört, mindestens zehn bis siebzehn mal in jeder Nacht. Als Begründung für diese Zermürbungstaktik nannten die SS-Leute "die Gefahr von Selbstmorden der Gefangenen."

Eine besondere Quiälerei in diesem Gefängnis war die Unmöglichkeit einer einigermaßen ausreichenden Verdauung. Da es in den Zellen weder ein Klosett noch einen Kübel gab, waren die Gefangenen auf die seltene Gelegenheit augewiesen, wo ihnen die Zellentür aufgeschlossen und die Möglichkeit zum Austreten in der sogenannten "Spülzelle" gegeben wurde. Das vollzog sich jedoch in einem solchen Hetztempo und unter so gefährlichen Formen, daß es tatsächlich Gefangene im Columbiahaus gab, die im Verlaufe von vier Wochen nicht mehr als vier bis fünf mal das Klosett aufsuchten. Ein Hauptproblem, mit dem man sich den ganzen Tag über beschäftigte, war die Frage, wie man möglichst wenig Flüssigkeit zu sich nehmen könnte. Bei einigen Gefangenen wurde diese Quälerei dadurch verstärkt, daß die SS-Leute sie zwangen, Rizinusöl zu trinken.

Die SS-Leute bezeichneten die Gefangenen durch die Bank auf berlinisch mit den Namen "Paule". Deshalb fungierten sie umgekehrt auch unter uns Gefangenen bei unseren späteren Gesprächen unter dem gleichen Namen. Einen nannten wir später den "Ohrfeigen-Paule". Wenn er Dienst hatte, baute er sich schweigend vor seinem Opfer auf und schlug dann plötzlich völlig grundlos und ohne jede Einleitung zu. Ein anderer war der sogenannte "Kniebeugen-Paule". Hatte er Dienst, so regnete es Befehle, wie die folgenden: "Du machst 50 Kniebeugen". War der Gefangene atemlos und erschöpft fertig, so erklärte Kniebeugen-Paule höhnisch: "Du bist ja so aufgeregt und ganz außer Atem. Damit Du Dich beruhigst, mach gleich nochmals hundert Kniebeugen."

Ein besonderer Sport, der den Eindruck erweckte, als sei man in einem Irrenhaus, nannte sich "Fliegeralarm". Das vollzog sich so, daß die SS-Leute, wenn sie Langeweile hatten, plötzlich auf dem Korridor brüllten: "Fliegeralarm", worauf die Gefangenen, wenn sie es nicht vorzogen, sich prügeln zu lassen, unter die Pritschen kriechen und sich dort in den Dreck legen mußten.

Weitaus ärger war die Behandlung einzelner Gefangener, die besonders verhaßt waren. Es gab zum Beispiel einen kleinen Krüppel, der bereits seit annähernd einem halben Jahr im Columbiahaus saß und bezichtigt wurde, er sei bei einer Schlägerei, bei der ein SA-Mann niedergeschlagen worden war, beteiligt gewesen. Offensichtlich gab es keinerlei Beweise für diesen Verdacht, da der Mann sonst längst abgeurteilt worden wäre. Dieser unglückliche Krüpppel, völlig verhungert und abgemagert, so daß er eher einem kleinen halbwüchsigen Schulbuben als einem vielleicht dreßigjährigen Mann glich, wurde täglich geschlagen. Er hieß bei den SS-Leuten "Du bucklige Mistsau". Wenn sie seine Zelle aufschlossen, mußte er in strammer Haltung die vorgeschriebene Formel hersagen: "Ich bin ein Mordbube." Für gewöhnlich folgten dann Fußtritte und Schläge. Es ist fast unvorstellbar, daß dieser schwächliche Körper nach einer so langen Leidenszeit noch immer nicht völlig zusammengebrochen war.

Den Gipfel der Prügelszenen bildeten die sogenannten "Kellermaschen". Das waren größere Exekutionen gegen die einzelnen Gefangenen, wobei die SS-Leute durch durch lautes Brüllen: "Runterkommen zur Kellermasche" mobilisiert wurden. Man teilte diese Mißhandlungen in "Windstärken 1 bis 5" ein. Handelte es sich um eine "Kellermasche Windstärke 4 bis 5" mußte man mit der Tragbahre aus dem Keller getragen werden.

Zu den bestialischen Ausschreitungen, die im Columbiahaus vorgekommen sind, gehört jene, daß einer Reihe von Gefangenen Einspritzungen mit Kampfer und Salzsäure in die Geschlechtsteile gemacht wurden. Mit schrecklichen inneren Verletzungen und Verbrennungen, mit zerfetzten Eingeweiden, wurden diese Unglücklichen aus dem Columbiahaus teils nach dem Polizeigefängnis am Alexanderplatz, teils nach dem Staatskrankenhaus überführt. Die Fälle, deren Opfer von verschiedenen meiner Mitgefangenen mit eigenen Augen gesehen wurden, hatten sich einige Zeit vor meiner Einlieferung nach dem Columbiahaus dort abgespielt.

Ich selbst trug aus dem Columbiahaus nur ein steifes Knie von dannen, das erst zwei oder drei Monate später brauchbar wurde. Gemessen an meinen vorherigen Folterungen im Konzentrationslager Brandenburg war schon das Columbiahaus für mich persönlich eine aufsteigende Linie. Später, als ich bereits in das Konzentraitonslager Oranienburg überführt war, teilte mir ein anderer, gleichfalls vom Columbiahaus überführter Schutzhäftling eine Begebenheit mit, die sich am 12. Dezember im Columbiahaus zugetragen hatte.

An diesem Tage wurde dieser Genosse mit John Schehr zusammen in den Keller des Columbiahauses zum Baden geführt. Der SS-Mann, der sie herunterbrachte, fragte ihn: "Kennnst Du den?" Er verneinte. "Was, Du Saujude, Du willst den KPD-Führer nicht kennen?" Genosse Schehr mischte sich ein, um den anderen zu retten: "Das ist doch leicht möglich, ich bin ja in Berlin unbekannt, da ich fast nur in Hamburg und Hannover öffentlich aufgetreten bin." Der SS-Mann erklärte nunmehr dem anderen Gefangenen: "Na, dem Schehr haben wir schon gezeigt, was hier für ein Wind weht. Aber nächstens kriegen wir einen hierher, auf den freuen wir uns schon alle. Der Jude Hirsch von der "Roten Fahne". Der wird was erleben!"

Zu jener Zeit war ich bereits 14 Tage im Columbiahaus. Der Mann hätte nur eine Treppe höher gehen müssen, um mich zu treffen. Hier wirkte sich die Tatsache zu meinen Gunsten aus, daß die Gefangenen im Columbiahaus vom Moment ihrer Einlieferung an meist nur als Nummern fungierten. Ich hieß z. B. nach meiner Nummer "Neunzehnfünfundsiebzig". Und dieses Incognito der Nummer 1975 hatte mich aller Wahrscheinlichkeit nach vor neuen schweren Mißhandlungen bewahrt.

Selbstverständlich gab es im Columbiahaus für keinen Gefangenen ein Buch oder eine Zeitung. Hier war also die Einzelhaft in ihrer erhöhten zermürbenden Form gegeben. Selbst die kleinste Abwechslung, die in einem normalen Gefängnis die tägliche halbe Stunde Gänsemarsch bedeutet, fiel hier weg. Tag und Nacht nichts als die kahlen Zellenwände, das Gitterfenster und die Tür, die sich fast nur öffnete, wenn irgend ein Peiniger die Zelle betreten wollte. Was fängt der Gefangene an, um wochenlang, monatelang, diesen Zustand zu ertragen?

Das erste ist der Spaziergang in der Zelle. Man marschiert vor und zurück, versucht vielleicht auch eine Art von "Runde" zu gehen. man fängt an, diese Runden zu zählen, man berechnet die Entfernungen, die man zurückgelegt hat. Ich habe in meiner Zelle an vielen Tagen einen Fußmarsch von 25 bis 35 km gemacht. Diese Berechnungen geben dann auch ein ungefähres Bild über den Ablauf der Zeit. Man sagt sich: Du bist jetzt so und soviel Kilometer marschiert, so und so viele Stunden müssen vergangen sein. Denn der Besitz einer Uhr ist selbstverständlich im Columbiahaus ebenso unstatthaft wie Hosenträger, Gürtel oder ähnliche Utensilien. Aber der Tag hat 16 Stunden, wenn man die 8 Studnen abrechnet, die man in der Nacht wenigstens liegen kann. Und 16 Stunden kann man nicht spazieren gehen.

Die beste Methode, um die zermürbende Langeweile und die tötliche Oede der Einzelhaft zu überwinden, ist das Nachdenken, die Beschäftigung mit allen möglichen Erinnerungen, gewissermaßen das Diskutieren mit sich selbst. Viele Genossen haben mir erzählt, daß sie in der strengen Einzelhaft dazu übergingen, ganz systematisch und planvoll sich allerhand Erinnerugnen aus ihrem Leben zurückzurufen und damit die Zeit auszufüllen. Sie ließen Erlebnisse, Wanderungen, Reisen, Kämpfe, Begegebenheiten aus dem Parteileben an sich vorüberziehen und überwanden so mit Hilfe des Denkens und der Phantasie die trostlose Umgebung des Kerkers.

Ich machte mir beispielsweise in den 6 Wochen meines Aufenthaltes im Columbiahaus und ebenso in der besonders schweren Einzelhaft im Konzentrationslager Brandenburg ein direktes Programm für eine Reihe von Tagen. Ich legte mir bestimmte Probleme fest, die ich an den einzelnen Wochentagen durchdenken würde, machte mir Pläne für die politische Arbeit, falls ich nicht eingesperrt wäre, sondern draußen in der illegalen Parteiarbeit stecken könnte, entwarf Flugblätter, Artikel, Broschüren und füllte auf diese Art meine Zeit vollkommen aus. Bisweilen gab es sogar erfreuliche Überraschungen: Ich konnte mit meinem Programm nicht Schritt halten. Irgendeine Frage, die ich für einen Tag "angesetzt" hatte, reichte für zwei Tage. Dann legte man sich abends mit dem befriedigenden Gefühl nieder, noch für einen Tag länger Stoff zum Nachdenken, zur Beschäftigung zu haben.

In den ersten acht bis 14 Tagen dieser vollständigen Isolierung schien es so, als ob man höchstens für ein bis zwei Wochen solche Probleme gewissermaßen "vorrätig" hätte. Danach würde es öde und zermürbend werden. Aber in Wirklichkeit tauchten immer neue Fragen auf. Als ich nach 6 Wochen das Columbiahaus verlassen und nach dem Konzentrationslager Oranienburg übersiedeln konnte, wo ich wieder Gesellschaft bekam, mit anderen Genossen zusammentraf, hatte ich mich an die vollständige Einzelhaft ohne Bücher und sonstige Hilfsmittel schon so gut gewöhnt, daß sie ihre Schrecken verlor.

Werner Hirsch: Hinter Stacheldraht und Gitter.Erlebnisse und Erfahrungen in den Konzentrationslagern und Gefängnissen Hitlerdeutschlands, Zürich 1934, S. 5-9 [Auszüge].

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